Letztes Jahr haben Lord of the Lost zusammen mit Combichrist, Filter und Rabia Sorda die Reithalle gerockt, jetzt sind also wieder im klassischen Gewand mit Ensemble unterwegs. Apropos gerockt, vor drei Tage habe ich hier im kleinen Saal des Alten Schlachthofes in Dresden noch eine „normale“ Metal-Show der Emil Bulls miterleben dürfen. Jetzt zeigt sich diese Lokalität von einer etwas anderen Seite, komplett bestuhlt und in dunkelrotes Theaterlicht gehüllt, sieht Mensch schon bei den ersten Blicken in Richtung Bühne, daß heute Abend wieder einmal E-Musik und U-Musik zu einer Symbiose verbunden werden sollen.
Diese Komibation ist zwar weder bandintern mit dem Verweis auf die LP „Swan Songs“ von 2015 eher neu im Musikgeschäft. Schließlich haben Rage mit „Lingua Mortis“ schon 1996 (etwas erfolgreicher: Metallica, 1999 mit „S&M“) dieses Crossover aus Rock/Metal Band und klassischem Orchester veröffentlicht. Was aber natürlich nicht heißen soll, daß diese Form der Darbietung mittlerweile total abgedroschen ist – ganz im Gegenteil – und der Erfolg der ersten Ensemble Tour „A Night To Remember“ vor gut zwei Jahren haben LOTL sicherlich mit zu einer Fortsetzung animiert. Was ebenso auffällt, viele Besucher haben den Anlass genutzt, die etwas gediegenere Abendgarderobe aus dem Kleiderschrank geholt und sich entsprechend in Schale geworfen.
Symbiose aus E-Musik und U-Musik
Nach „Swan Songs“ bzw. „Swan Symphonies“ und dem Livealbum „A Night To Remember – Live Acoustic In Hamburg“ gibt es nun mit „Swan Songs II“ einen weiteren Longplayer in dem Genre. Welcher mir persönlich mit am Besten gefällt, weil schon beim ersten Anhören festzustellen ist, daß darauf nicht nur Balladen & Co in sogenannte „Swan Songs“-Versionen neu interpretiert werden, sondern auch etliche Dampfmacher-Tracks aus der Diskographie, wie Beispielsweise „Fists Up In The Air“ oder „Full Metal Ball (Full Metal Whore – Polished, Polite & PC)“. Diese neuerliche Veröffentlichung führt letztendlich dazu, daß die Hanseaten nach zwei Konzerten in ihrem Heimathafen die Elbe flußaufwärts geschippert und nun in Dresden vor Anker gegangen sind, um ihr neues Song-Material einer auserwählten Öffentlichkeit vorzustellen. Mit auserwählt meine in diesem Zusammenhang ein ausverkauftes Haus, in dem Spannung bzw. Vorfreude unter den Anwesenden auf das heutige Programm quasi in der Luft liegt.
Oh Ha!
Den Auftakt machen OH FYO!, eine Pop/Rock Band aus Lübeck. Allerdings habe ich mich schon beim vorherigendem Durchhören der Debüt-Platte „Bravery“ gefragt, warum die Hamburger sich ausgerecht diese Kapelle als Support für ihre Kammerorchester-Shows ausgesucht haben. Ehrlich gesagt hätte ich mir als sogenannten Special Guest bei solch einer Veranstaltung eine(n) bzw. mehrere MusikerInnen am Klavier oder einem Streichinstrument schon eher vorgestellt. Als die beiden Songwriter Flix Highfield und Marius Evan ihre aktuellen Tunes, nur mit Akustikgitarre bewaffnet, dem Publikum vorstellen wird es für mich echt grenzwertig.
Über Geschmack lässt sich ja bekanntlich streiten und es kann auch durchaus sein, daß ich am heutigen Abend mit dieser Meinung in der Minderheit bin, aber dies ist ziemlich austauschbar und nicht wirklich gut. Vielleicht bleiben Einige wegen der Bestuhlung sitzen bzw. klatschen anstandshalber Beifall. Die zwei Musiker treffen bei mir jedenfalls nicht unbedingt auf offene Ohren. Ja, ich bin eh schon kein größer Fan von Herren, die nur mit einer Klampfe über Leben, Liebe oder Herzschmerz singen, denn in meinem Gehörgang kommt dies dann meist eher wie jammern und säuseln an. Wie gesagt, die meisten Anwesenden hören sich das Set interessiert bis zum Schluss an und bekunden das mit entsprechendem Applaus.
Der erste Akt:
Ein bisschen wie zu Hause
Schon der erste Song „Raining Stars“ wird vom Publikum begeistert bejubelt und aus gespannter Vorfreude wird innerhalb von ein paar Minuten pures Vergnügen. Sänger Chris Harms begrüßt alle Anwesenden und bietet den drei, vier Leuten, welche am Rand stehen die noch freien Sitzplätze an – ganz persönliche Gästeversorgung. „Wander In Sable“ bzw. der Klassiker „Dry The Rain“ sind nächsten beiden Musikstücke, letztgenannter war übrigens schon in einer Orchester-Version auf der EP „Beside & Beyound“ zu finden. So wechselt die Liederauswahl zwischen der aktuellen „Swan Songs II“ und der zwei Jahre älteren LP „Swan Songs“. Der Frontlord möchte per Abfrage wissen wo „sein“ Publikum genau herkommt und er stellt fest, daß die Mehrheit aus dem Dresdner Umland oder von noch weiter weg angereist ist und nicht direkt aus Elbflorenz kommt. Er erinnert sich an die sechs, sieben Auftritte der Band in der sächsischen Landeshauptstadt und durch die tollen Menschen vor der Bühne, aber ebenso dahinter, ist der Alte Schlachthof quasi so eine Art kleines zu Hause für die Band entstanden.
Das geht bei den Menschen im Saal natürlich runter wie Öl und ist gleichzeitig auch ein passender Übergang zum nächsten Song „The Sands Of Time“. Profis machen auch mal Fehler, „Waiting For You To Die“ muss nach drei Sekunden neu gestartet werden. Da aber alles mitgeschnitten wird, ist diese kurze Version des Songs vielleicht demnächst käuflich zu erwerben, so Harms mit Augenzwinkern. Danach gibt es die laut Begleitheft angekündigte, zweite Unterbrechung. Leider läuft abermals Lady Gaga als Hintergrundmusik. Dies zeugt jetzt nicht unbedingt von tiefgründiger Auswahl, auch wenn die Titel teilweise aus dem jazzlastigen Popalbum „Cheek to Cheek“ stammen.
Der zweite Akt:
Spannungsspitzen, Kammerorchester Metal und Gänsehautmomente
„Falls Asleep“ ist das erste Stück im zweiter Teil des Hauptprogramms und als nach dem Folgenden „Drag Me To Hell“ alle Ensemblemusiker wieder vollzählig sind, machen sich leider gewisse technische Probleme bemerkbar. Frontlord Chris muss nun die nächsten Minuten mit Anekdoten aus der Bandgeschichte überbrücken, weil eine defekte Cat-Leitung für sogenannte Spannungsspitzen sorgt und gewechselt werden muss – interessant, Mensch lernt nie aus. Ebenso der passende Moment, um sich vom ortskundigen Publikum ein paar Tipps für die Abendgestaltung nach dem Konzert bzw. für den morgigen, bandinternen Ausflug beim Off Day zu erfragen. In Sachsen ist der Buß- und Bettag gleichzeitig ein arbeitsfreier Feiertag. Genaueres sollen die Anwesenden dann bei der anschließend stattfindenden Autogrammstunde kund tun, zu der Harms die ZuschauerInnen herzlich einlädt. Jetzt soll er das tun, was Sänger während eines Konzertes eigentlich nie tun sollen, nämlich ruhig sein, für den finalen Switch auf eine andere Leitung. Wie gut ist es dann, daß LOTL bei dieser Tour Mitmusiker am Start haben, deren Instrumente keinen Strom brauchen.
Posaunen-Solo
Alexsander Kockel stimmt mit seiner Posaune erst ein bisschen Volksmusik an, was am Saal zu keinem Spannungsabfall führt – ganz im Gegenteil, danach gibt es Dixieland und zum Schluß wird die weltbekannte Hymne „We Will Rock You“ angestimmt und von vielen Anwesenden mitgesungen. Nach Fertigstellung der Umbaumaßnahmen senkt sich der Puls bei der Technik-Crew etwas, während der Adrenalinspiegel beim Orchester steigt was sich gleich auf das gesamte Auditorium überträgt. Denn jetzt heißt es nicht „We Will Rock You“, sondern The LOTL Ensemble will Metal you und zwar mit „Full Metal Ball“ bzw. dem darauf folgendem „Fists Up In The Air“ – absolut geiler Scheiß und mein persönlicher Höhepunkt an diesem Abend. Natürlich gibt es bei Konzerten in solch klassischem Gewand auch die ruhigeren, intimen Passagen und diese sorgen nicht nur beim weiblichen Teil des Publikums für Gänsehaut-Momente, wie bei „My Better Me“ oder dem Klassiker „Annabel Lee“. Totale Euphorie und quasi eine absolute Spannungsspitze erzeugt „Credo“, die Lord of the Lost-Hymne schlechthin, als vorerst letzter Song. Nach und nach stehen die KonzertbesucherInnen von ihren Sitzen auf, unter jubelndem Beifall verlassen die Musiker die Bühne.
Der zusätzliche Akt:
Die indirekte Aufforderung für den dritten Teil
der „Swan Songs“
Nach dem sich die Begeisterung ein wenig legt, das Licht wieder etwas gedimmt wird, interpretieren Gared Dirge und Chris Harms als Duo den Madonna-Klassiker „Frozen“ sehr gelungen als „Swan Songs“-Version neu. Danach sind auch wieder alle anderen Mitmusiker auf der Bühne und intonieren die beiden finalen Stücke „Lost In A Heartbeat“ bzw. „Lighthouse“. Im Anschluß bedankt sich der Frontlord, verbunden mit der wiederholten Einladung zur Autogrammstunde, für den tollen Abend beim Publikum. Aber ebenso bei seinen Ensemble-Kollegen, den Leuten vom Schlachthof und der Live-Crew. Wieder stehen alle Saal und feiern unter tosendem Applaus das gesamte Orchester für das phantastische Konzert, welches vielen wahrscheinlich noch lange in Erinnerung bleiben wird.
„We give our hearts to the lord of the lost
We give our hearts to the lord of the lost
We live in the dark
Not in heaven we trust
We give our hearts to the lord of the lost
We’re ready to depart
Not in hell we do trust
We give our hearts to the lord of the lost“
(Auszug aus „Credo“)
Die Begeisterung in Dresden sollte den Hamburgern auf alle Fälle genügend Motivation mitgeben, beim nächsten Anlass wieder hier im Hafen mit dem LOTL-Schiff anzulegen. Vielleicht für eine weitere „Swan Songs“-Aufführung oder für eine ganz „normale“ Rock-Show, schließlich braucht es erstmal neues Liedgut bevor daraus „Swan Songs“ entstehen können. Für die nächste Veranstaltung im klassischen Gewand würde ich allerdings eher das Schauspielhaus, die Schauburg oder die Staatsoperette als Lokalität vorschlagen. Dies hat auch nichts mit den technischen Problemen an diesem Abend zu tun – ganz im Gegenteil, die wurden von der Crew ganz schnell behoben und von der Band bestens überbrückt. Außerdem wissen jetzt alle Anwesenden was im technischen Bereich Spannungsspitzen auslösen können und wofür Cat-Leitungen gebraucht werden. Es geht mir eher darum, daß ein richtiges (Film-)Theater ein ganz anderes Flair ausstrahlt, als ein sonst unbestuhlter Konzertsaal. Aber Luft nach Oben gibts immer. Instgesamt aber großartig, ganz großes Kino, Lord of the Lost.
The LOTL Ensemble 2017
- Piano, Gared Dirge
- Schlagwerk 1, Daniel Möhrke
- Schlagwerk 2, Paul Keller
- Orgel, Cembalo & Fender Rhodes, Covin Bahn
- Posaune & Bassposaune, Alexsander Kockel
- erste Violone, Maline Zickow
- zweite Violine, Felicitas Fischbein
- Viola, Ida Luzie Philipp
- Violoncello, Miriam Göbel
- Kontrabass, Julia C. Pfänder
- Akustikgitarre, Pi
- Gesang & Violoncello, Chris Harms
- Akustikbassgitarre, Class Grenayde
- Ton, Benjamin Lawrenz
- Licht, Alex Nasa
- Bühne, Bengt Jaeschke
- TV Of The Lost, Linus Specht
- Merchandise, Nadja Müller
- Tourleitung, Manu Wießner
Diese Angaben der gesamten Besatzung entstammen aus Begleitheft (von links oben nach rechts unten). Außerdem ist dem Programmblatt zu entnehmen, daß auf dieser Tournee bei den Konzerten Film- bzw. Tonaufnahmen für eine DVD-Produktion gemacht werden. Da steht also demnächst eine weitere Veröffentlichung aus dem Hause LOTL an und vielleicht kann diese ein wenig dafür entschädigen, daß aus behördlichen Gründen die Support-Shows für KMFDM in den Vereinigen Staaten leider nicht stattfinden konnten, welche eigentlich für Oktober dieses Jahr geplant waren. Letzte Gelegenheit Lord of the Lost live zu erleben ist auf dem Dark Storm Festival in Chemnitz und weitere Ensemble Konzerte sind für 2018 in Russland angesetzt.
Galerien (by Kristin Hofmann bs! 2017):
Setlist:
- Raining Stars
- Wander In Sable
- Dry The Rain The Devil You Know
- The Love Of God
- Ribcages
- The Sands Of Time
- Six Feed Underground
- Beyond Beautiful
- Waiting For You
- Intermission
- Fall Asleep
- Drag Me To Hell
- Prison
- See You Soon
- Full Metal Ball
- Fists Up In The Air
- My Better Me
- Annabel Lee
- The Broken Ones
- Credo
Encore - Frover (Madonna Cover)
- Lost In A Heartbeat
- Lighthouse
Weiterhören:
- Lord Of The Lost: „Swan Songs & Swans Symphonies II“; „A Night To Remember – Live Acoustic In Hamburg“; „Swans Symphonies“ & „Swan Songs“
- OH FYO!: „Bravery“
Links:
www.lordofthelost.de
www.alter-schlachthof.de
Veranstalter:
Extratours Konzertbüro & In Move