Das Qiuintett aus Chicago ist mit verantwortlich, dass die Musikjournalisten Anfang der 90er Jahre den Begriff bzw. das Genre Postrock entstehen lassen haben und Tortoise somit meist mit zu den „Erfindern“ dieses Musikstils gezählt werden. Sehr zum Unmut der Band und auch wenn dem Kind ein Namen geben werden muss, kann man das auf der anderen Seite absolut verstehen, denn sie verbinden wesentlich mehr Elemente in ihrer Musik zu einer Symbiose, als allgemein unter dem Begriff verstanden wird. Da wären u.a. die Stile Experimental bzw. Progressive bis hin zum Kraut Rock, eine ganze Menge Jazz und zusätzlich den einen oder anderen Schuß Electronica.
Ähnlich wie bei der Band Mogwai kommt der Sound von Tortoise ohne Gesang aus und man weiß dadurch sofort, wo bei den Musikern aus Illinois der Fokus liegt. Allerdings setzten die Herren John Hemdon (Keyboard/Sequenzer/Schlagzeug), Douglas McCombs (Bass/Gitarre), John McEntrie (Bass/Gitarre/Keyboard/Perkussion/Saxophon) und Jeff Parker (Bass/Gitarre) im Vergleich zu der eben erwähnten Band aus Schottland wesentlich mehr Instrumente ein.
Sieben Jahre sind seit der letzten Veröffentlichung vergangen und eines fällt beim Cover der aktuellen Platte „The Catastrophist“ neben dem ersten „The…“ im Namen sofort auf: Wo die anderen Longplayer mit mehr oder weniger modernen Kunst-Titelbildern versehen waren, ist hier ein Gesicht – wenn auch als Collage vermutlich aus den einzelnen Gesichtern der fünf Musiker – zu erkennen. Nicht nur die Wartezeit auf das neue Album, sondern obendrein auf das Live-Konzert hat sich ziemlich hingezogen, weil der für Juni geplante Gig in den November verlegt wurde. Ich persönlich fand es gar nicht so verkehrt, denn ein nasskalter Herbsttag eignet sich doch schon eher für eine Club-Show als einer im Sommer. Deshalb:
auf, auf in den Beatpol…
Allein schon beim Besteigen der Treppen im Flur nach oben zum Konzertsaal, links und rechts die verschiedenen Plakate vergangener Veranstaltungen bewundernd, weiß man ’this is the place to be’ (zumindest für heute Abend in Dresden). Hier wird seit über 25 Jahren Musikkonzertgeschichte mit groß- bzw. teilweise einzigartigen Live-Gigs geschrieben. Drinnen im Saal angekommen, kann man diese Historie atmen und spüren, mir fällt in der Stadt keine andere Lokalität – gerade für Tortoise – ein, wo dieses Konzert sonst hätte stattfinden können. Der Altersdurchschnitt des Publikums ist meist Ü30, der männliche Anteil überwiegt und der Freak- bzw. Nerd-Faktor ist nicht zu übersehen. Allerdings auch nicht weiter verwunderlich, schließlich sind Tortoise eine Album-Band und weit weg von Pop bzw. ’One-Track-Good’-Attraktion, was ihre Popularität in den letzten 25 Jahren gewiss nicht geschmälert hat.
Nach über einer Stunde des (weiteren) Wartens ist es nun dann endlich soweit, die fünf Musiker betreten die Bühne. Auf der Bühne – Der Aufbau hat es wirklich in sich, auch wenn auf eine Leinwand für entsprechende Videoprojektion auf dieser Tour ganz offensichtlich verzichtet wird – gibt es etliches zu entdecken bzw. zu sehen. Zwei Schlagwerke, im Vergleich zum üblichen Aufbau, ganz vorn und in der Mitte der Bühne positioniert – zusätzlich um 90 Grad gedreht, so dass beiden Schlagzeugern beim Spielen viel besser zugesehen werden kann. Die Leute, welche am Rand an den Boxen stehen, können den beiden Musikern quasi sogar beim Sticksschwingen direkt über die Schultern schauen. Daneben sind links und rechts je eine Marimba als zusätzliche Perkussion-Instrumente aufgebaut, ebenso um den 90°-Winkel gedreht. Erst in der zweiten Reihe stehen dann Gitarrenhalter (mit mehreren „G’s“ im Halfter), Keyboard, Synthesizer, Sampler, Vibraphon und noch einige andere Instrumente bereit, die während des Konzertes zum Einsatz kommen. Die nächste Besonderheit bei Tortoise – es kommen nicht nur alle Tonwerkzeuge zum Einsatz, auch fast jeder in der Band beherrscht mehrere Instrumente gleich gut und so wird dann zwischen den Tracks munter durchgewechselt, was ich in diesem Ausmaß nur noch von der Band Katzenjammer aus Norwegen kenne.
Schaut man den fünf Herren dann noch bei der Arbeit zu, erkennt man genau, warum alle Mikrophone auf die jeweiligen Instrumente gerichtet sind. Gesangsparts hätten hier gar keinen Platz. Sie würden auch völlig vom Eigentlichen ablenken. Die Musiker spielen, besser gesagt die Künstler musizieren so konzentriert, dass der Sound dieses Quintetts sich aus der Summe der einzelnen Teile bildet –
fünf Perfektionisten, mit perfektem Spiel versuchen den perfekten Klang zu erzeugen.
Da eine Sechs/Sieben-Minuten-Nummer einer Tortoise-Platte als Live-Version locker Mal im zweistelligen Bereich enden kann, verwundert es nicht, dass nach über einer Stunde (allerdings nicht gefühlt) die ersten Takte von „Seneca“, eines der Aushängeschilder der Band mit sehr bekanntem und eingängigem Rhythmus, ertönen und das eigentliche Set danach beendet ist. Zwei Zugaben, einige „Thank You“’s der Musiker und ganz viel Beifall vom absolut begeisterten Publikum später ist das ganze Konzert (leider) schon wieder vorbei. Die glücklichen und zufriedenen Gesichter der vielen Anwesenden im Saal sowie der fünf Herren auf der Bühne verraten, dass mit diesem Konzert und durch Tortoise wieder ein weiteres Kapitel in der Geschichte vom Beatpol geschaffen worden ist.
Was 1988 als Simple begonnen hatte, ’92 in Tortoise umbenannt wurde, ist nun schon seit fast 25 Jahren als Formation unterwegs, um den Leuten auf der ganzen Welt einem ganz speziellen Klangkosmos live darzubieten. Jede/r, die/der die Band aus Chicago schon ein Mal erlebt hat, will dies erneut tun, denn jedes Konzert ist wirklich etwas Einmaliges. Jede/r Rookie ist sofort infiziert und wird Tortoise ebenso wieder anschauen wollen, weil ihre Shows eine einzig geile Jam-Session im Perfect-Mode mit Punk-Attitude sind. Also unbedingt bei nächster Gelegenheit hingehen und hier erst Mal die Fotos ansehen.
Links:
www.trts.com
www.beatpol.de
Weiterhören:
Tortoise „The Catastrophist“, „Beacons Of Ancestorship“, „A Lazarus Taxon“, „The Brave And The Bold“, „It’s All Around You“, „Standarts“, „TNT“, „Millions Now Living Will Never Die“ & „Tortoise“