„Mit denen kann man´s ja machen“ müssen sich die Urgesteine der Hamburger Schule gedacht haben, als sie spontan entschieden, statt der „Nie Wieder Krieg“-Tour heute testweise das erste Konzert der „Berlin Years“-Tournee abzuhalten. „Mit uns kann man´s ja machen“ dürfte sich die kultivierte Crowd gedacht haben, denn bis auf ein paar „Ja, ist mir auch aufgefallen, aber macht ja nichts“ ist der spontane Klangtapetenwechsel spurlos an allen vorbeigegangen. Das ist aber auch dem Zauber des Parks der Gärten zu verdanken, der mit seinem geschwungenen Konzertsegel, umgeben von schönen Grünanlagen einfach jede aufkommende Unzufriedenheit verpuffen lässt.
Die Menschen fühlen sich bereits lang vor Konzertbeginn wie die Made im Speck, sitzen im Gras und lassen sich die Sonne auf den Pelz scheinen. Entsprechend wohlwollend wird der Support des Abends „Nichtseattle“ aufgenommen.
Die Berlinerin Katharina Kollmann und ihre MitmusikerInnen kommen ohne Schlagzeug, sehr leise, verletzlich und gefühlvoll daher, und erst nach 3 sehr langen Songs schwillt das dezente Rauschen derer an, die sich doch nicht voll und ganz auf dieses dahingehauchte Kleinod der Poesie zu konzentrieren können und vielleicht nicht mal merken, dass man sie quatschen hören kann. Die ersten Reihen können sich dem Zauber jedoch überhaupt nicht entziehen und auch die eine oder andere Träne dürfte verdrückt worden sein.
Irgendwas war immer schon
Ich glaub a priori da
Wütet, wehrt sich blutig
Krümmt sich, entschuldigt sich schon seit Jahren
In der Wartezeit zwischen den Bands erkunden die im Herzen jungen Tocotronic-Fans noch ein wenig die Umgebung mit ihren vielen kreativen Sitzgelegenheiten und der mittlerweile aktiven „Illumination“, die den Park ab Sonnenuntergang durch viele Lichtspiele in allen Farben leuchten lässt. „Wie schön ist das denn hier bitte!?!“ ruft auch Frontmann Dirk v. Lowtzow, als die „Tocs“ die Bühne traditionell zu Prokofievs „Rittertanz“ in Besitz nehmen. Garnicht so einfach, wenn man 3 verschiedene Programme abwechselnd spielt. Die „Hamburg Years“-Tour mit Songs von 1993-2003 läuft schon länger, die „Nie Wieder Krieg“-Tour seit kurzem und die „Berlin Years“-Tour mit Songs von 2004 bis heute läuft demnächst an.
Die Bad Zwischenahner*innen wurden auserkoren in einer spontanen Programmänderung Versuchskaninchen zu spielen. Schon Wahnsinn, dass selbst mit halbierter Album-Anzahl nur so 2-3 Songs pro Platte herausspringen. für die Eingefleischten Fans geht es irgendwie viel zu schnell chronologisch durch das Repertoire. Hat ein Song des jeweils nächsten Albums begonnen, haken sie im Kopf ein weiteres Dutzend des vorigen Albums ab, die an diesem Abend definitiv nicht mehr gespielt werden. Umso mehr weiß man dann jedoch, die Songs auszukosten, die es in die Setlist geschafft haben. Die eingängigen Popnummern wummern (Gegen den Strich, Kapitulation, Die Folter endet nie, Electric Guitar),
Wir finden uns selbst als Anarchisten
Als unscharfe Bilder auf Fahndungslisten
Erkunden uns selbst und wollen es wissen
die schnellen Rocksongs bringen ordentlich Bewegung in die gemischten Altersklassen (Sag alles ab, Macht es nicht selbst, Ich will für dich nüchtern bleiben, Zucker, Ich hasse es hier). Und vor allem langen Songs mit harten, düsteren Instrumentalparts, für die Tocotronic berühmt sind, rauben den Atem (Ich habe Stimmen gehört, Mein Ruin, Eure Liebe tötet mich, Wie wir leben wollen, Explosion).
Eure Liebe tötet mich
Und doch bin ich unersättlich
Weil ihr zur gleichen Zeit die Medizin verschreibt
Fehlerfrei und fröhlich spielen Tocotronic umrahmt von angesammelten Plüschtieren und Dirk von Lowtzow´s Lächeln mag manchmal garnicht mehr aus seinem Gesicht weichen. Nur zu „Nie Wieder Krieg“ kommt die angemessene Ernsthaftigkeit in Form einer Solidaritätsbekundung für das Ukrainische Volk und allen Menschen auf der Flucht. Einzig die sonst so zahlreichen Zugaben mussten aufgrund der zeitlichen Grenzen des Veranstaltungsortes etwas kürzer treten. Vor allem „Freiburg“ wird schmerzlich vermisst. Zum Trost steht der nun unter dunkelstem Nachthimmel in allen künstlichen Farben leuchtende Park alle Konzertbesuchern für einen letzten andächtigen Spaziergang auf dem Weg hinaus offen. „Puff!“ Zufrieden!
Text: Stefan Dombrowski
Galerien (by Thea Drexhage bs! 2022):
Setlist Tocotronic:
- Pure Vernunft darf niemals siegen
- Aber hier leben, nein danke
- Gegen den Strich
- Ich habe Stimmen gehört
- Kapitulation
- Mein Ruin
- Sag alles ab
- Eure Liebe tötet mich
- Die Folter endet nie
- Macht es nicht selbst
- Ich will für dich nüchtern bleiben
- Wie wir leben wollen
- Zucker
- Electric Guitar
- Die Unendlichkeit
Encore: - Nie wieder Krieg
- Ich hasse es hier
- Jugend ohne Gott gegen Faschismus
- Ich tauche auf
Encore 2: - Explosion