Welt, Tag 742 der Corona-Pandemie. Krieg, Tag 28 des Überfalls auf die Ukraine. Menschen sterben, Millionen fliehen, die Zivilisation wird durch russische Bomben zerstört. Eine Welle der Hilfe fliesst durch den freien Westen. Die Taliban verbieten den Mädchen Afghanistans die Schule. Die Welt versinkt immer tiefer in dieses merkwürdige Paralleluniversum, das nicht für den Produktiveinsatz gedacht sein kann.
Hamburg, 19:30h. Frieden. „Spare Ribs“-Tourneeauftakt der britischen Musiklegende Sleaford Mods. Corona Freedom Day. Lange Schlange vorm Grünspan nah der Reeperbahn an der superstrengen Impfpass-Kontrolle, das Konzert ist 2G+ mit Maskenpflicht. 300.000 Neuinfektionen an diesem Tag, 5.559 weitere Fälle in Hamburg oder eine Inzidenz von 1.382, vor kurzem sind die meisten Corona-Massnahmen weggefallen. Das Konzert ist ausverkauft, 1000 Fans sind gekommen, das Grünspan ist gerappelt voll, nachdem die Begrenzung der Zuschauerzahlen weggefallen ist. Die Impfnachweise werden akribisch geprüft, aber der Einlass geht überraschend schnell und routiniert. vorbildlich.
Total surreal alles nach zwei Jahren Selbstisolation und nur vier Menschen, denen ich in dieser Zeit persönlich gegenüber stand.
20.00 Uhr, eröffnet wird der Abend von der hamburger Shitney Beers, das eigentlich angekündigte K-Pop – Quartet Girlscrush hat „krankheitsbedingt“ abgesagt. Shitney steht ganz alleine auf der Bühne, Bierflasche in der einen Hand, an der anderen ein Finger bandagiert, gebrochen wie sie sagte und der Auftritt deshalb ohne Gitarre. Die Musik kommt aus ihrem Laptop. Sehr melodiös, man möchte die ganze Band live erleben. Echt minimalistisches Bühnen-Setup, sehr gut für pandemie-gerechte Solo-Tourneen.
Wer jetzt krassen Punk erwartet hat, ist völlig verwundert überrascht von Shitneys wunderbar zarter fast schon SingerSingwriter-Musik, die aber nicht ganz so harmlos-banal ist wie die zuvieler aus diesem Genre. Sehr interessant, bitte mehr davon.
Nach 30 Minuten ihres sehr reduzierten Sets und dann doch grossem Applaus Bühnenumbau, Portishead, The Creatures als Pausenmusik, gespanntes Warten. Umbau? Auf der Bühne nur ein Mikrophon, halbhoch aufgebaut und ein grosses Instrumentencase. Und ein grosser silberner Retro-Ventilator. Irgendwann bringt Andrew Fearn seinen Laptop auf die Bühne – persönlich, kein Roadie – schließt ihn auf dem Case an und verschwindet wieder backstage.
21.05 Uhr, der epische Sturm beginnt.
Weisses Bühnenlicht-Gewitter, harte Elektrobeats stürmen den Saal, Sleaford Mods – Produzent Andrew Fearn zappelt Batteriehasentester-like um das Laptop Case, Sänger Jason Williamson hat wohl bei Freddy Mercury und Dave Gahan gelernt, das Mikro zu tanzen und sich darum zu falten. Ein Song geht in den nächsten über, harter wilder zorniger Sprechgesang in breitestem East Midlands-Dialekt der Band aus Nottingham.
Jason Williamson stolpert über die Bühne, hörnt sich immer wieder mit seiner Wasserflasche, steckt den Kopf im den grossen Retro-Ventilator, hockt sich fast drauf, stellt sich immer wieder an den Bühnenrand mit linker Hand in den Rücken gestützt und Mikroständer mit der rechten Hand in die Luft gehoben und haut uns den krassen Hip Speed Hop Punk der Sleaford Mods um die Ohren, man spürt seinen Zorn geradezu körperlich.
SO würde Robin Hoods Lieblingsband beim Kampf gegen den Sheriff von Nottingham heute klingen.
Wir hören die Songs ihres aktuellen sechsten Studioalbums “Spare Rips”, in der Isolation der Pandemie innerhalb von drei Wochen entstanden. Auf „Spare Ribs“ dreht sich alles um das Corona – Jahr 2020 in England. Politisch und unverblümt richten sich Jason Williamson und Andrew Fear gegen das Establishment. Songs wie verbitterte Hasstiraden. Williamson sprechsingt über das moderne Arbeitsleben, übt Kritik an der Starkultur, faucht gegen Kapitalismus und Gesellschaft an. Ein schimpfwortgewaltiger Punkvortrag, die Alltagssprache des Frontmann, nicht aufgesetzt oder als Provokation gedacht.
Ich darf in der Grabenecke am Bühnenrand das Konzert verfolgen, mit halbwegs Abstand zu den anderen. danke. Plötzlich steht eine langvermisste liebe Musikfreundin glücklich strahlend neben mir, wie schön. Unter der Maske hab ich sie erst nicht wiedererkannt, nur das Gefühl, wir kennen uns gut, diese Pandemie verändert uns doch oft sehr. Sureal. „Legenden“ sagt sie über die Band, aber auch sie versteht kaum ein Wort. ich glaube, immer wieder „FUCK IT“ zu hören. Und frage mich bald, wie lange Jason Williamson diese unglaubliche Textmenge in der Hitze und dem Gewitter noch durchhält.
Krass.
Songs wie „Shortcummings“, „Nudge It“, „Mork N Mindy“, „Tied Up In Nottz“, gegen Ende der Song “Nudge It” mit Amy Taylor als Gastsängerin, ihre Stimme nur vom Band, dann die Sleaford Mods – Version von Yazoos „Dont Go“, überraschend aber genial modern. Nach einer Stunde die erste Ansage, Jason Williamson entschuldigt sich beim Publikum für all das Üble durch Grossbritannien. Richtig, Brexit, da war doch noch was neben Corona, Ukraine und all den anderen derzeit fast vergessenen Dramen auf der Welt.
Es wirkt, als wenn das die Unterbrechung zur Zugabe wird, aber sie verlassen die Bühne nicht, sondern schlagen für 20 Minuten nochmal voll zu. Der Abend endet abrupt ohne weitere Zugabe und ein plattgerapptes Publikum feiert die Band. Draussen vorm Grünspan bilden sich viele kleine Grüppchen, niemand will sofort nach Hause, das erste richtige Konzert nach langen Monaten der Pandemie-Beschränkungen sorgt fürs grosse Wiedersehen.
Surreal.
Krass.
Gross.
(Update 5 Tage später: Die Corona Warn App zeigt ROT – erwartbar… )
Galerien (by Jörg-Martin Schulze bs! 2022):
Links:
https://www.sleafordmods.com
http://ghvc.de/archives/artist/shitney-beers