Review: Puppentheater mit Schrottgrenze und Wait Wait (25.02.2017, Münster)

Wir schreiben den 25. Februar 2017. Schrottgrenze sind auf Tour und machen halt in Münster. Was sich ein wenig nach einer Verschiebung des Raum-Zeit-Kontinuums anfühlt, ist tatsächlich eine überraschende Reunion, welche glatt dazu verleitet, mal wieder den zehn Jahre alten Schrottgrenze-Hoodie aus dem textilienverschlingenden Kleiderschrank zu kramen. Zugegeben: er hat schon bessere Tage gesehen, aber im „Gleis 22“ macht das nichts. Der gerade mal 300 Menschen fassende Laden ist in schummriges Licht gehüllt. Ein Schild über der Bar verkündet die ernüchternden Worte: „Kein Schnaps“, gut, warum auch nicht. Die von Vorhängen begrenzte Bühne erinnert an ein Puppentheater, 30cm hoch und nah an der Decke gebaut. Sorgen um etwaige Kopfverletzungen kommen auf, für springfreudige Künstler eine tatsächliche Gefahr und ausgerechnet heute keine Pflaster dabei. Aber irgendwie ist es ja auch ganz charmant. Während der 30-minütigen Wartezeit zwischen Einlass und Konzertbeginn spricht der innere, erfahrene Musikliebhaber ein Stoßgebet zum heiligen Soundlord: „Bitte liebes Gleis 22, kling nicht kacke.“

Schrottgrenze (Foto: Thea Drexhage bs!)

Um 21:00 Uhr betritt eine bunt gemischte, fünfköpfige Kapelle die Bühne. Von Turnschuhen, über Jeansjacken, Truckercaps, zugeknöpften Hemden und Tweedsakkos ist alles vertreten. Jetzt könnte so ziemlich alles kommen, was die Musikwelt zu bieten hat. Und irgendwie tut es das auch. Wait Wait nennen sich die Hamburger Jungs und spielen ein wahnsinnig gutes Set. Post-Wave-Klänge mit etwas Postrock hier, einem Teil Placebo da und bowie-esken Anflügen, gepaart mit einer Stimme ähnlich der eines Ronan Harris, klingen durch den Raum und der Klang, Soundlord sei Dank, ist toll.

„Go Bananas“

Das Publikum, brav in Reihen mit je 80cm Abstand zueinander, wirkt sichtlich überrascht über diese Supportactwahl, denn mit Schrottgrenze haben die, außer der Frisur der Frontmänner, doch nun so gar nichts gemein. Aber Wait Wait kriegen die kleine Menge ganz gut um den Finger gewickelt, der warmen, dicken Klangwolke die das Gleis 22 einnimmt, kann sich niemand entziehen. Komplexe Songstrukturen werden fehlerfrei und hochprofessionell dargeboten, umso verwirrender die kleinen Spickzettel mit Texten, die sich auf der Bühne tummeln. Verwirrend zumindest so lange, bis doch mal ein paar Worte gesprochen werden. Das Publikum erfährt, dass Wait Wait an diesem Abend ihren zweiten Auftritt überhaupt absolvieren und derzeit an ihrer ersten EP arbeiten. Das erklärt, warum das Internet außer einer spärlichen Facebookseite und einem Musikvideo zum Song „Go Bananas“ nichts über die Truppe ausspuckt. Das Publikum weiß dies zu schätzen, klatscht eifrig und verlangt sogar nach einer Zugabe, welche es leider nicht gibt. Da hilft nur warten auf die hoffentlich bald erscheinende EP.

Umbaupause.

Musiker wuseln mit Equipment durch den kleinen Laden. Das Publikum holt sich keinen Schnaps. Die Abstände der Zuschauerreihen verschwimmen, Ordnung ist vorbei. Das Licht geht aus. Ein Elektromix erklingt und wiederholt die Maxime: „Lieb doch einfach, wen du willst!“ immer und immer wieder. Das Publikum stimmt ganz selbstverständlich mit ein, bis irgendwann die Musiker um Alex Tsitsigias die Bühne betreten. Mit einem Augenmake-Up das seines Gleichen sucht, tritt Tsitsigias an sein Mikrofon, um die ersten Töne von „Nichts ist einsamer als das“ anzustimmen. Ein älterer, wohlbekannter Song. Die erste Reihe wird sofort von wilden TänzerInnen eingenommen und der Text erklingt aus allen Kehlen. Der Einstieg wäre geschafft. Es folgen drei Stücke der jüngsten Platte „Glitzer auf Beton“.

„Das ist für alle Schwulen und Lesben, für alle Transgender und Dragqueens … und weil heute Samstag ist, auch für alle Heteros.“

.., kündigt Tsitsigias mit einem breiten Grinsen an. Mit „Glitzer auf Beton“ und „Sterne“ wird diese Ansage untermauert. „Weil Geschlechter konstruiert sind und wir sie nicht leben müssen – Weil die Leute irritiert sind, wenn sich Männer küssen.“, heißt es. Unglaublich charmant und ohne plakative Parolen schaffen es Schrottgrenze, den ZuhörerInnen, unverständlicherweise nach wie vor umstrittene Themen nahe zu bringen. Und wirklich alle singen und tanzen mit. Was auf Platte vielleicht poppig gediegen wird, entpuppt sich live als extrem tanzbar, sodass selbst der Bildstabilisator der Fotografin ins Schwitzen kommt.

Schrottgrenze (Foto: Thea Drexhage bs!)

Auf die Dreifaltigkeit der neuen Songs folgt „28“, als einziger Song der vorletzten Platte „Schrottism“. Danach geht es quer durch die Geschichte der Band. Jeder Song ein Treffer, alle Texte sitzen. Und auch das „kein Schnaps“ Problem wird gelöst. Tsitsigias reicht eine Flasche „Bocholter Kräuterschnaps“ ins Publikum, dieser dreht ein paar Runden und kommt dann fast leer zur Bühne zurück. „Am geichen Meer“ und „Fotolabor“ werden laut mitgefeiert und mit „Lied vom Schnee“, „Schwärze“ und „Belladonna“ kommen auch Fans von „Das Ende unserer Zeit“ voll auf ihre Kosten. Wer jetzt noch nicht heißer ist, kann seine Stimme spätestens nach dem ersten Refrain von „Lashes to Lashes“ völlig vergessen.

Lashes to Lashes
Lust to Lust
A natural born
queen – slut – fag
In love with love
And the rest is drag.

Schrottgrenze (Foto: Thea Drexhage bs!)

Englisch kann das Publikum also auch. Das kommt partiell auch bei „Mann am Punkt“ ganz praktisch daher. Nachdem der Bocholter fast wieder vergessen war, reicht die Band nun eine Flasche Russian Standard ins Publikum aus gealterten Punkrockern und jungen Hüpfern. Aus Solidarität für das vom Karneval befallenen Münster, diesen Scheiß gäbe es in Hamburg zum Glück nicht. Nach dem Motto „Sharing is caring“ dreht auch diese wieder ihre Runden durch die tanzwütige Menge und nur der Spuckschluck kehrt zurück auf die Bühne. Von jetzt an nur noch Bier oder Cola. Nach „Fernglas“ und „The laird of John o‘ Groats“ beenden Schrottgrenze ihr Set, nicht wie erwartet mit „gib mir Reibung“ sondern mit „Lila will heim“. Heim möchte in diesem Moment jedoch niemand. Eher:

„Wo sind Zeitmaschinen,
wenn man sie braucht?
Stell nochmal auf Anfang,
alles auf Anfang.“

Für das Publikum gibt es noch ein „kein Schnaps“- Bier und eine Zigarette mit der unfassbar netten Band und dann beginnt die Heimfahrt.

Und zumindest die Autorin wünschte sich in diesem Moment eine fertige EP von Wait Wait.

Galerien (by Thea Drexhage):

Setlist Schrottgrenze:

1. Nichts ist einsamer als das
2. Glitzer auf Beton
3. Januar Boy*
4. Sterne
5. 28
6. Am gleichen Meer
7. Halbfrei
8. Christine
9. Dulsberg
10. Fotolabor
11. Ostern
12. In deiner Wohnung
13. Lied vom Schnee
14. Belladonna
15. Schwärze
16. Lashes to Lashes
17. Zeitmaschinen
18. Mann* am Punkt
19. Fernglas
20. Eine Stadt aus Klebstoff
21. The laird of John o’Groats
22. Jörg Heiss‘ neues Auto
23. Lila will heim

Links:
www.schrottgrenze.de
www.facebook.com/waitwaitband

Thea Drexhage
Thea Drexhagehttps://www.be-subjective.de
Thea Drexhage hat Salma Hayek einiges voraus! 10 mm. Wie die meisten Frauen der Redaktion, Duffy, Beth Ditto, Joan Rivers oder Angus Young kann sie die MusikerInnen aus dem Bühnengraben also völlig problemlos sehen, wenn jemand ihren Hocker trägt, wird aber - das hat sie mit Salma dann doch wieder gemein - dennoch viel zu oft auf Ihre Körpergröße, ihre Mähne und ihre leicht misanthropischen Anflüge reduziert. Damit sie also nicht im nächstbesten Titty Twister von Sonnenunter- bis Sonnenaufgang Menschenmengen und Bläser mätzelt, halten wir “Aggro-Thea”, die zuvor ganze Landstriche in Mecklenburg Vorpommern ausgerottet hat, halbtags im spießbürgerlichen Oldenburger Exil an der langen Leine. Seither legt sich die scheißpünktliche existentialistische Besserwisserin analog mit Sartre, Camus & Kodak an und ja, auch wir müssen neidlos zugestehen, dass der Instagram-Account ihrer beiden Katzen “Salma” und “Hayek” mehr Follower pro Tag hat, als unser webzine im ganzen Jahr.

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