Bei dieser Band muss man wohl keine großen einleitenden Worte vorab verschwenden. Nach 5-jähriger Pause sind die Jungs – bzw. mittlerweile fast schon Männer – von Tokio Hotel zurück und es hat sich einiges getan. Der Sound ist poppiger, der modische Stil in gewisser Hinsicht erwachsener. Und vor allem die Konzertlocations der „Feel It All – Part 1: The Club Experience“ Tour sind von riesigen Stadien auf kleine intime Locations geschrumpft. Dies erfolgte laut Band jedoch bewusst, um wieder mehr auf Tuchfühlung mit den Fans zu kommen und ihnen etwas besonderes zu bieten.
Bei den Fans blieb es allerdings beim Alten, wie das kleine Schlachtfeld auf der Wiese vor der Kulturkirche beweist: Wärmedecken, Supermarkttüten und Müll. Die Fans schienen einige Zeit auf ihre Idole gewartet zu haben und das bei großer Kälte – da hätte man zwischendurch wenigstens mal ein wenig aufräumen können um sich aufzuwärmen!
Das Innere der Kulturkirche besitzt alles, was eine Kirche eben so bieten sollte. Buntglasfenster, hohe Deckenbögen, Balkone, Verzierungen. Die Bühne ist erstaunlich niedrig und für Tokio Hotel Verhältnisse sicher sehr klein, doch das restliche Ambiente und Drumherum macht aufgrund der Besonderheit das Erlebnis ganz groß und das obwohl die Band noch nicht einmal auf der Bühne steht.
Rund 400 Fans füllen die Kirche und das bei einem Ticketpreis von stolzen 86 Euro pro Stehplatz – doch dafür ist gute Sicht gewährleistet. Doch nicht nur die normalen Tickets gab es zu erwerben, auch Tickets die den Inhaber berechtigten dem Soundcheck beizuwohnen (150 Euro) oder gar das „Feel It All“ Ticket für 1850 Euro bei dem der Fan bei einem Song mit auf die Bühne darf. Also ich persönlich würde da lediglich den stechenden Schmerz des zerronnenen Geldes in meinem Herzen spüren. Doch für einen richtigen Fan ist das sicherlich ein unglaubliches Erlebnis.
Um 20:27 Uhr – also gut 1 ½ Stunden nach der Einlasszeit – wird das Licht unter lautem Aufschreien der Fans gelöscht. Es vergehen wenige Minuten im Dunkel und „Wir wollen Tokio Hotel“ Rufe werden laut, bevor das Intro auch schon startet. Auf einen transparenten Vorhang, der vor der Bühne hängt, werden geometrische, futuristische – oder 90er Jahre HyperHyper, je nachdem wie man es nimmt – Symbole projiziert und technoide Klänge ertönen. Schließt man die Augen könnte man fast denken, man sei im Tunnel Club auf St. Pauli. Als man die Bandmitglieder durch den hauchzarten Stoff erahnen kann, schwillt das Gekreische kurzzeitig an und ich erwache aus meinen 90er Jahren Loveparade-Träumen… doch… träume ich immer noch? Scheint da tatsächlich eine Krone durch den Vorhang? Und tatsächlich: als der Vorhang zu „We Found Us“ fällt enthüllt er einen Bill mit goldenem Krönchen und pompösem Umhang mit überdimensionalen Schulterpolstern, bei denen jede 80er Jahre Band vor Neid erblasst wäre. Mit zurückgegeltem platinblondem Haar und Pilotenbrille auf der Nase kommt er allerdings schon ziemlich cool rüber. Der Sound ist von der ersten Sekunde an einwandfrei abgemischt. Die poppigen Klänge ertönen fast besser als auf CD.
Zum zweiten Song „Girl Got A Gun“ passen Tom’s, Georg’s und Gustav’s Bandanas, die sie sich um den Mundbereich gebunden haben, perfekt.
Nicht nur der Sound, sondern auch die Lichttechnik überzeugt an diesem Abend voll und ganz. In der kirchlichen Stätte wirken die Licht- und Laserstrahlen noch einmal ganz anders als bei den Lichtshows in großen Hallen. Und nach dem 3. Song „Dark Side Of The Sun“ wendet sich Bill an die kleine Menge „Seid ihr bereit zu sündigen heute abend??“ – ohja ich bin mir sicher das sind die meisten und ein Beichtstuhl ist sicherlich auch um die Ecke. Und so richtig 80er Jahre ertönt das Keyboard nun zu „Covered In Gold“. Goldgelbe Strahlen von oben tauchen Tokio Hotel in passend goldenes Licht. Die Jungs – sorry Männer – verstehen es ein stimmungsvolles Ambiente zu schaffen.
Der einzige große Stimmungsdämpfer des abends sind die eiskalten und stockfinsteren Dixie-Toiletten. Da hätte man auch mal ein paar Lichteffekte einsetzen sollen. Doch die Fans, die nicht nur aus Deutschland, sondern u.a. auch aus Spanien, Belgien, Russland und Frankreich angereist sind, sind nun mal hart im nehmen. Und wer schon einmal auf einem Festival war, der ist das sowieso gewohnt, hat vielleicht nur nicht gerade in der Kulturkirche damit gerechnet.
Man merkt förmlich, dass Tokio Hotel hauptsächlich ihr neues Album bewerben. Doch ich muss sagen dieser neue Sound steht ihnen zumindest live richtig gut. Und dann schlägt die Stunde der 1850 Euro Ticket Besitzer. Sie dürfen die Bühne zu „Kings Of Suburbia“ entern und ein wenig mitwippen und ins Mikro singen. Also genau das tun, was sie auch vor der Bühne tun würden, nur noch näher an der Band. Noch bevor der letzte Ton des Songs gezupft ist, müssen sie das Rampenlicht auch schon wieder verlassen und der transparente Vorhang wird erneut hochgezogen.
Stimmungsvolle Projektionen untermalen „Invaded“. Ich bin mir sicher, dass zu dieser Ballade das ein oder andere Tränchen fließt. Doch die tränenden Augen könnte auch das neue Outfit von Bill verursacht haben. Die Hippiebluse und die Ketten an der Hose stellen einen ziemlichen Fauxpas dar. Doch was sagt schon die Optik aus, wenn die Livequalität so hochwertig ist?! Bei dem folgenden „Rescue Me“ singt die Menge einstimmig mit. Und auch sonst sorgen die Fans für gute Stimmung. In einer so kleinen Runde sind sich sowieso alle einig und den Gefühlen wird mit Seifenblasen, Luftballons, Knicklichtern und Schildern freien Lauf gelassen.
Und noch ein Outfitwechsel findet statt. Der rote Fake Fur Mantel, den Bill bei „Screamin’“ trägt ist zwar auch Geschmackssache, aber besitzt mehr Stil. Als er diesen zu „Stormy Weather“ fallen lässt entblößt er jedoch wieder ein 90er Jahre XXXXXL Neon-Hemd und man gerät fast in Versuchung „U Can’t Touch This“ zu singen. Da greift halt auch schonmal jemand so stilsicheres wie Bill daneben – denn wie heißt es so schön „einmal ist keinmal,…“.
Doch gerade weil Bill offensichtlich so auf Outfitwechsel steht, verwundert es umso mehr, dass er bei dem Song „The Heart Get No Sleep“ kein Feuerwehrmannoutfit trägt – schließlich lässt er mit (s)einem Schlauch ordentlich Dampf ab. Nein, das Neonhemd ist ein wirklicher Abtörner. Da erscheint auch schon wieder der Vorhang, bevor „Love Who Loves You Back“ als Zugabe beginnt… Bill leider immer noch im Neonhemd. Um 21:54 schlägt dann die Stunde für einzige deutsche Lied des abends. Natürlich: „Durch den Monsun“. Danach gibt es Worte des Abschieds bevor „Great Day“ unter einem Schildermeer der Fans und Konfettiregen der Band um 22 Uhr das Konzert ein abruptes Ende findet.
Ganz objektiv und als Nicht-Tokio-Hotel Fan muss man sagen, dass allen Lästereien und Gerüchten über schlechten Kartenverkauf vorab zum Trotz es eine stimmungsvolle und qualitativ hochwertige Show war. Trotz aller ironischen Berichterstattugnen, die man so im Netz findet und trotz der Ironie die sich auch stellenweise in diesem Bericht wiederfindet sind Tokio Hotel an diesem abend höchst professionell und überzeugend. Die Jungs sind erwachsen geworden und scheinen einen neuen Weg gehen zu wollen. Einen Weg, der ihnen gut steht und ihnen vielleicht im ersten Zuge nicht unbedingt die Stadien füllen wird, jedoch mehr Reife und Forschritt verspricht. Ein Wandel, der mich offen gesagt überrascht – und vielleicht werden sich auch die ein oder anderen ironischen und kritischen Tokio Hotel Betrachter mit wandeln.
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