Review: Steven Wilson – die Oper „Nerd“ in der Swiss Life Hall (21.01.2016, Hannover)

Die Oper „Nerd“. Steven Wilsons extrem (gut) produzierte Show 

Bereits die ersten Schritte in die zu neun Zehnteln gefüllte Swiss Life Hall gestalten sich schwierig. Von vorne an durchgehend bestuhlt und dunkel, nur durch die Animation einer riesigen Häuserfront auf dem Videoscreen hinter der Bühne spärlich beleuchtet erweist sich der Weg bis zu einem der wenigen freien Plätze als mühsam.

Steven Wilson (Foto: Isabelle Hannemann)
Steven Wilson (Foto: Isabelle Hannemann)

Es ist seltsam ruhig im Publikum. Gedämpfte Gespräche allenfalls sind zwischen den Stuhlreihen auszumachen. Spannung und Entspanntheit liegen dicht nebeneinander in den zehn Minuten, die vergehen, während auf der Bühne noch nichts weiter passiert, als dass in der Fassade auf dem Screen mal das eine, mal das andere Fenster die Lichtfarbe wechselt. Mit der Zeit macht sich Begreifen breit. Das Bild fängt an, Sogwirkung auf die Zuschauer auszuüben.

Gerade droht mensch dort zu versinken, in diesem Gefühl von Verlorenheit und Einsamkeit in den Wohnhöhlen urbaner Räume, als nacheinander die Musiker die Bühne betreten und ihre Instrumente zur Hand nehmen. Erst jetzt wird erkennbar, dass schon die ganze Zeit als Untermalung des projizierten Bildes die Anfangssequenz des Einstiegsstückes lief.

„First regret“

Der Bruch könnte kaum stärker sein.  Im letzten Viertel des Songs dröhnt ein Bassgewitter über die Reihen, das die Lautsprecher an die Grenzen ihrer Kapazität bringt, verstörend anschwillt und schließlich abebbt. Erholung.

Steven Wilson (Foto: Isabelle Hannemann)
Steven Wilson (Foto: Isabelle Hannemann)

Wie auch Hand. Cannot. Erase. das Album, das die erste Hälfte des Konzertes prägt, folgt der Abend einem klaren Konzept. Die Linie aus der Vergangenheit in die Zukunft der Musik Wilsons, des am nächsten Tag erscheinenden Folgewerkes 4 ½ und zurück zu einigen neu arrangierten Stücken von Porcupine Tree. Alles webt sich um die Themen Verlust und Versuch zur Freiheit, Unerreichbarkeit und Nähe. Klangräume entfalten und schließen sich wieder, während für die Zuschauer mal die Bilder auf dem Screen, mal Wilson und Band in den Vordergrund treten.

Bei Routine bittet Wilson zu einem ersten von drei Duetts Ninet Tayeb auf die Bühne. Die israelische Sängerin haucht dem Song seine pathoslos-melancholische Intensität ein, die niemanden im Saal kalt lässt:

„Don’t ever let go

Try to let go“

…und das Publikum spendet danach das erste Mal standing ovations.

Steven Wilson (Foto: Isabelle Hannemann)
Steven Wilson (Foto: Isabelle Hannemann)

Mit den einsetzenden Basssalven von Home Invasion, die Nick Beggs in den Raum hämmert, verfliegt der Zauber und lässt das Publikum durchatmen. Wieder ein Wechseln: Sphärisch treibt Adam Holzman Orgel und Synthie in Höhe, um schließlich Platz für die schwelgend-weiten Soli von Dave Kilminster zu machen, der ihm in nichts nachsteht.

Im zweiten Teil des Konzerts mischen sich Songs des neuen Albums mit alten Bekannten von Porcupine Tree.

Die Songs auf 4 ½ hatte ich eigentlich schon bei Hands. Cannot. Erase. fertig.  Aber irgendwie passten sie nirgendwo richtig.“ Heute Abend passen sie, setzen sich wie Puzzlestücke an das erste Set. Der Wechsel der Emotionen trägt weiter durch die Show. Bilder setzen sich an Töne, setzen sich an Bilder.

„Don’t hate me“

Noch einmal reißt es die Zuschauer nach einem Song aus den Sitzen, den Wilson zusammen mit Ninet Tayeb neu arrangiert hat. Sich nähernd und wieder entfremdend inszenieren die beiden Protagonisten auf der Bühne das Thema in einer instrumental weicher, zögerlicher gewordenen und dennoch intensiven neuen Version.

Bitte steht auf. Ich glaube für ein paar mehr Songs geht das.“ Die Zugabe beginnt mit dem einzigen vor der Tour noch nicht eingeplanten Element. Wilson und Band spielen Space Oddity zu Ehren des am 10ten Januar verstorbenen David Bowie.

Steven Wilson (Foto: Isabelle Hannemann)
Steven Wilson (Foto: Isabelle Hannemann)

Ihr müsst an einer bestimmten Stelle etwas Bestimmtes tun, sonst bleibt an der Stelle eine große Lücke.“ Lange nicht alle Anwesenden kennen den Punkt im Bowie-Stück, an dem sie angehalten sind zu klatschen. Irgendwie funktioniert es dennoch. Die Lücke wird nicht zu groß heute Abend.

The raven that refused to sing, beendet schließlich bittersüß einen langen Abend. Gefangen, befangen, verzückt bedankt sich das Publikum wiederum und immer noch stehend mit anhaltendem Applaus.

Die komplette Fotogalerie vom Konzert könnt ihr per Klick hier besuchen.

Links:
stevenwilsonhq.com

Max Noreg
Max Noreghttps://www.be-subjective.de/
Max Noreg ist gut zu Vögeln.* Hinterm Deich mit Meersalz von Wölfen gesogen, hat der lonesome rider mit Adorno ordentlich einen durchgezogen - ostfriesischen Tee versteht sich - wobei Tee und Rum wohl in der Hauptsache die musikalische Identität des Ornitolgen Schrägstrich Rudelführers gestiftet haben. * Die Redaktion kann wegen zwielichtiger Angebote die private Kontaktadresse leider nicht veröffentlichen.

Weitere Artikel

Ähnliche Beiträge

Preview: Die breiten sich aus – Extrabreit live (2024)

Immer zum Ende des Jahres sind Extrabreit auf Tour....

Review: Mehr als nur eine Saga – SAGA live (26.11.2024, Hannover)

Saga, Saga, Saga. Was bedeutet dieses Wort eigentlich? Nun...

Preview: Nicht zu erwarten – Beth Hart live (2024)

Wenn eine Künstlerin im Blues-Bereich zuhause ist, denkt man...

Review: Verrückt, Verzückt, Verzerrt – Imminence live (23.10.2024, Hannover)

Am Anfang war das Feuer. Die Welt war irgendwie,...