Review: Ryan Bingham – Ein musikalisches Erlebnis (23.06.2016, Zürich)

Ja, es gibt noch ein Leben neben der EM. Zumindest an den spielfreien Tagen. So folgt das Veranstaltungszentrum Bogen F in Zürich seiner Tradition und lädt Filmsong-Oscar- und Grammy Gewinner Ryan Bingham aus Texas zum jährlichen Konzert ein. Und der nimmt das Angebot gern an und spielt vor circa 200 Personen im ausverkauften Bogen F.
Pünktlich geht es los mit Reza Dinally. Für den Zürcher ein Heimspiel und auch im Bogen F war er schon mehrmals zu Gast. Lange dunkle Haare, dichter Bart, breitkrempiger Hut, Gitarre, unterstützt von einem Keyboarder und einem Schlagzeuger. Die Musik ist ruhig, manchmal fast schon spirituell, eine Mischung aus Folk mit rockigen Elementen und sehr viel Gefühl. Musik zum innehalten, zuhören, sich auf eine musikalische Reise mitnehmen lassen.
Das eigentliche Herzstück der Musik ist die Stimme von Reza Dinally. Mit dieser Stimme verleiht Reza Dinally seinen Gefühlen Ausdruck, materialisiert Stimmungen, erschafft Parallelwelten, verursacht Gänsehautfeeling. Dieser Gesang ist mal fein, sensibel, zerbrechlich, leise, um dann zu einen vollen, grossem, kraftvollen Tonmonument anzuschwellen. Die Instrumente fügen sich in diese Welt vorsichtig ein und unterstreichen die Aussagen.

Ein musikalisches Erlebnis!

Nach einer kurzen Umbauphase kommt dann das personifizierte texanische Vorurteil auf die Bühne: Ryan Bingham betritt mit einem breiten gewinnenden Lächeln die Bühne. Cowboyhut, kariertes Hemd, Jeans, Mundharmonika, Gitarre. Ehemaliger Rodeoreiter, breiter texanischer Akzent und eine tiefe Reibeisenstimme. Und der musikalische Wind ändert sich. Die Musik ist dynamischer, rockiger mit deutlichen Country- und Folkanteilen. Aber auch hier ist die Stimme des Sängers das tragende Element. Eine tiefe Reibeisenstimme, deren Spannbreite von trocken, knarrend mit Wüstensand im Getriebe über sanft, streichelnd mit einem dezentem Geknarze, weiter über fröhlich hüpfend beschwingt bis hin zu kryptisch, dunkel, mit extrem viel Sand im Getriebe fast jede Gefühlsnuance im Raum entstehen lässt.

Ryan Bingham wächst in New Mexico und Texas auf. Nach einer eher unglücklichen Kindheit, frühem Abbruch der Schule, lebt er quasi ein Outlawleben in Texas und verdient sein Geld als Cowboy bei Rodeoshows. Das Gitarrespielen lernt er zufällig von Mariachi Musikern. Es folgen Auftritte, diverse no-Budget CDs bis er von dem Label “Lost Highway” das Angebot für ein Debütalbum bekommt, das ein grosser Erfolg wird. Das Lied “The Weary Kind”, welches er zusammen mit T-Bone Burnett für den Film “Crazy Heart” aufnimmt, verhilft ihm zum Oscar und Golden Globe für den besten Song und einen Grammy Award. Zur gleichen Zeit verliert er nahezu gleichzeitig seine Eltern. Seine Mutter trinkt sich zu Tode und sein Vater begeht Selbstmord.

Und so handeln seine teils autobiografischen Lieder von der gesamten Bandbreite des Lebens: von Liebe, von Verlusten, hartem Outlawleben, vom Reisen, vom Ausbrechen, über Mut, Schicksalsschläge, vom Sinn des Lebens. Mal düster traurig, mal optimistisch lebensfroh. Und genauso ist auch das Konzert. Mal ruhig, fast schon nachdenklich, dann wieder dynamischer, beschwingter, mal mehr Countrysound, mal mehr rockiger Sound, mal mehr Ballade bis hin zu Mithüpf-Liedern. Mal mit Mundharmonika, meist mit Akkustikgitarre, unterstützt durch eine elektrische Gitarre, Bass und Schlagzeug. Und ganz zum Schluss bei den Zugaben ein Lied nur mit der Reibeisenstimme und Akkustikgitarre.

Wow!

Eine Musik, die gut in die Location passt. Der Bogen F ist eine Bar in dem Bogen einer Eisenbahnbrücke. Zwischendrin hört man das Vibrieren eines drüberfahrenden Zuges, meist werden diese Hintergrundgeäusche jedoch durch die Musik überdeckt. Die Wände bestehen aus grossen, recht unbearbeiteten Steinen, die Bühne wird durch den Brückenbogen eingerahmt. Es ist eine kleine, charmante, stilvolle Location, die der Musik eine heimelige und besondere Nuance verleiht.

Das Publikum ist sehr gemischt, von jung bis alt, von gediegen bis zu alternativ. Eine angenheme bunte Mischung. Die Stimmung ist friedlich, jeder geniesst das Konzert auf seine Weise: die einen mehr am Eingang mit geschlossenen Augen mitschwingend, die anderen direkt vor der Bühne wild hüpfend und der Musik ihren eigenen Ausdruck gebend. Vor der Bühne fällt der frisch zurückgekehrte Sommer unangenehm auf. Es ist fast unerträglich heiss und die schnelleren Lieder, die einen mitwippen und mitgrooven lassen, machen es nicht besser. Der Schweiss läuft in Strömen, aber das Publikum stört sich nicht daran. Und die Musiker auch nicht. Sie spielen zwei Zugaben, bevor sie die Bühne verlassen und das Publikum hinaus in die frische Nachtluft entlassen.

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https://www.youtube.com/watch?v=eoFwQnHFeYM

Insgesamt ein sehr gelungener Konzertabend in einer aussergewöhnlichen Location. Ein Abend mit Musikern, die mit Herzblut gespielt haben, musikalische Welten erschaffen haben, das Publikum mit auf ihre Reise genommen haben und einen wunderschön kurzweiligen Abend erschaffen haben.
Daher, wer gefühlvolle Musik, die eher in das ruhigere Segment fällt, mag und auch einem leichten Countrysound was abgewinnen kann, sollte sich ein Konzert von Reza Dinelly oder Ryan Bingham nicht entgehen lassen.

Links:

www.binghammusic.com
www.rezadinally.com

Judith Sander
Judith Sanderhttps://www.be-subjective.de
Es gibt Sucht-Charaktere, die entsagen und es gibt andere, die setzen sich ins Epizentrum ihres Verlangens. Nein, Judith ist keine Schweizer Taschenmesserwerferin, sie ist bekennend schokoladensüchtig und metzelt ohne zu zucken für ‘ne Toblerone oder Eiscreme oder Tobleroneeiscreme oder.. na jedenfalls: Die Frau ist echt Zucker, echt hart drauf, hat ein feines Näschen, legt sich für die richtigen Dinge ins Zeug, in die Kurve und nascht am allerliebsten an kleinen, unbekannten Bands in ruhiger Atmosphäre. Wer die olle Genießerin dennoch ans Messer liefern will, sperrt sie – in einen rosa Rüschen-Alptraum gehüllt – mit stinkenden Dränglern ins Musikantenstadl und nimmt ihr das letzte Milkyway weg.

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