Abends viertel vor Sieben in Deutschland: ein ehemaliges Fabrikgelände, ein Parkplatz , eine Treppe und eine verschlossenen Tür, vor der sich unaufhaltsam schwarz gekleidete Menschen aufreihen, fröstelnd der Dinge die da kommen mochten. Eisbrecher in Magdeburg – eine eiskalte Angelegenheit vom Mast bis zum Kiel. Über mangelnde Eiszeit – zynisch betrachtet „ein stimmiges Gesamtpaket“, konnte man sich als Anhänger der Eisboys nicht beschweren. Vor allem jene, die sich in kurzen Hosen und / oder T-Shirt an diesem zugig-kühlen Samstagabend – der mehr an eine stürmische Winternacht erinnerte, denn an den 28. März, zwei Wochen vor dem Eierpellen – vor die Factory wagten.
Seit meinem letzten Besuch vor einem knappen Jahr, hatte die Zeit deutliche Spuren an Magdeburgs einstigem Vorzeigeclub hinterlassen. Zumindest äußerlich wirkt die Factory inzwischen arg heruntergekommen. Zerbrochene Scheiben, eine alte, herrenlos umher liegende Matratze auf dem Parkplatz, Graffiti Schmierereien allerorten und die zerbrochene Leuchtreklame über dem Eingang boten ein Bild des Jammers. Wer für Eisbrecher zum ersten Mal hier aufschlug durfte daher berechtigte Zweifel hegen, ob hier überhaupt ein Rockkonzert stattfinden könne.
Zum Glück punktete die Factory schon immer eher mit ihre inneren Werte und so bot sie auch heute wieder Magdeburgs unangefochtene Spitze in der Gewichtsklasse bis 1000 Publikümmer. Dass derer heute nur etwa 400 aufkommen sollten, tat dem keinen Abbruch, konnte die Band doch auch ohne neues Material im Gepäck, den Erfolg ihrer letztjährigen Sünder Tour mehr als bestätigen, wo sie höchstens noch in Nordhorn vor luftigen Reihen spielen musste.
Nach dem Einlass, der je nach Informationsquelle wahlweise pünktlich oder mit einer halben Stunde Verspätung öffnete, verstrich noch eine weitere Stunde, bis die obligatorische Taschenlampe in Richtung Mischpult zirkelte und die Opener „Die So Fluid“ das Feld der Ehre betreten „sollten“. Stattdessen schummelte sich jedoch einer in den Vordergrund, der noch gar nicht dran war:
Zur Einstimmung auf den Abend ließ es sich Eisbrecher-Alexx nicht nehmen, seine insulanischen Tourgäste höchstpersönlich anzukündigen. Und weil wir „alle in der Schule gut aufgepasst haben“, dürfte das mit dem Englisch „ja auch kein Problem sein“. Zudem schien Frontfrau Grog auch ohne verbale Kommunikation, bleibenden Eindruck bei dem bayrischen Charmebolzen hinterlassen haben, was für die bevorstehende Darbietung hoffen ließ. „Schaut Euch diese Frau ganz genau an. Die Lady ist der Hammer!“, gab er dem wartenden Volk auf den Weg und damit die „Bühne frei“ für „Die So Fluid“.
Wer vorab ein bisschen recherchierte, wird das lautstarke Gemisch des Trios zielsicher als räudigen Bastard aus Post Grunge, Alternative Rock und Metaleinflüssen identifieziert haben. Wer es weniger vorbelastet auf sich zukommen ließ, dürfte den scharfkantig, rauhen Sound der Truppe vor allem als laut, kompromisslos und bisweilen anstrengend in Erinnerung behalten haben. Allerdings machten Gitarrist Mr. Drew (Richards), Schlagzeuger Al Fletcher und eben jene Grog, alias Georgina Prebble, an Aussehen, Bass und Gesang selbst dem blutigsten Konzertrookie klar, dass sie ihre Instrumente nicht erst seit dem Titelblatt in der Dezemberausgabe des Orkus beherrschen und dabei über beachtliche Bühnenpräsenz verfügen. Mit einem Blick auf die Vergangenheit der Band kommt man nicht umhin zu erwähnen, dass Miss Dezember, deren Name verdächtig an ein alkoholisches Heißgetränk erinnert, bereits 2001 den Grundstein der Band legte. Gastspiele als Bassistin für Mel C und Kelly Osbourne dürften dem Erfahrungsschatz ebenfalls zuträglich gewesen sein. Und auch die Herren Fletcher und Richards haben bereits einiges auf dem musikalischen Kerbholz, Überraschungen inklusive. Wer würde schließlich hinter dem Drummer einer hierzulande wenig bekannten Rockband einen ehemaligen Grammy Gewinner vermuten, der bereits 2003 einen Preis für das beste Reggae Album mit „Lee Scratch Perry“ einsackte?!
Dankenswerter Weise waren sich die Briten ihres gegenwärtigen Ranges in der Nahrungskette bestens bewusst und begingen nicht den Fehler vieler Support-Acts, das Publikum mit aller Gewalt auf ihre Seite ziehen zu wollen. Stattdessen nutzten sie Kapitän Alexx' großzügig spendierten Sympathievorschuss, um durch Taten zu überzeugen. Wobei sie die übliche Beschnupperungsphase zu Beginn ihrer Show – zumindest was den männlichen Teil des Publikums anbelangt – auch zu einem nicht unerheblichen Prozentsatz mit Grogs weiblichen Attributen überbrückten, die, stilsicher in einer Art Nina Hagen-Outfit verpackt, zweifellos einen heißen Feger ergaben. Dass Frau Prebble auch stimmlich überzeugte, dürfte den meisten erst aufgefallen sein, als der Sabber im Mundwinkel langsam trocknete, was etwa zur Showmitte der Fall war. Bis dahin hatten Die So Fluid bereits ein gemischtes Repertoire aus Songs ihrer beiden Alben „Spawn Of Dysfunction“ und „Not Everybody Gets A Happy Ending“ zum besten gegeben, das sie mit dem Kracher „Existential Baby“ eindrucksvoll fortsetzten. Spätestens jetzt merkte auch der Letzte dass Frau Grog nicht nur aussah wie die Königin der Nacht, sondern auch, man verzeihe mir den Ausdruck, mächtig Bums auf dem Organ hat.
Entgegen der Gepflogenheit, kraftvolle Frauenstimmen als nervig abzutun, zündete das Gebräu mit fortschreitender Spielzeit nahezu flächendeckend. Einzustimmen vermochte zwar niemand, doch das zunehmend leidenschaftlichere Wippen, Nicken und Schunkeln im Saal verriet das einvernehmliche Verständnis der musikalischen Darbietung. Auch der Beifall und Jubel zwischen den Songs wurde mit jedem Song stärker, was der Band natürlich nicht verborgen blieb. Artig bedankten sich die Drei für den Zuspruch und genossen, dass Magdeburg es ihnen scheinbar leichter machte als die Städte zuvor. A great f***in´ Kraut…ähh crowd?
Mit einem komplett neuen Song, sowie den aktuellen Albumhighlights „Gang Of One“ und „Not Everybody Gets A Happy Ending“ verabschiedeten sich Die So Fluid anschließend zufrieden von einem Publikum, dessen offensichtliche Feierlaune für den bevorstehenden Eisbrecher Gig Großes erwarten ließ. Verglichen mit den eher dünnen Vorstellungen von Jesus On Extasy auf der Herbsttour, wurden Die So Fluid ihrer Aufgabe gerecht und zündeten ohne viel Tam-Tam ihr eigenes kleines Feuerwerk, mit dem sie sich keineswegs verstecken mussten. Der teils recht heftige Rocksound der Band mag vielleicht nicht vor jedem Publikum funktionieren, hier und heute lagen Die So Fluid jedoch goldrichtig!
Nach einer ausgedehnten Umbaupause wurde es Zeit für den Hauptgang des Abends. Und der enttäuschte nicht! Im Gegenteil! Obwohl sich das musikalische Programm als weitgehend kongruent mit dem der Herbsttour zeigte, wusste das heutige Konzert (übrigens eine der größten Stärken von Eisbrecher), selbst Wiedergänger aufs neue zu überraschen. Die Gründe hierfür waren vor allem in der prächtigen Chemie auf der Bühne und Käpt´n Alexx' amüsanter Schlagfertigkeit zu finden, mit der der kahle Hüne bekanntlich auch seine Auftritte als Gebrauchtwagen-Checker regelmäßig zu würzen versteht. Der Mann einfach den Bogen raus, wie er sich für die Band coolstmöglich in Szene setzt. Irgendwo zwischen charismatischem Drecksack und everybody´s Kumpel. Was soll da schon schief gehen? Eben, Nichts! Nichts und wieder nichts!
Eispickel hauend marschierte der Triumphator zu Werke und zündete mit der gesungenen Frage „Kann den Liebe Sünde sein?“ ein weit über anderthalbstündiges Gelage, wie es Magdeburg offenbar schon länger nicht erlebt haben muss. Oder lag es vielleicht doch an der Strategie das Publikum mit Alkohol gefügig zu machen? Man weiß es nicht so genau…Zumindest ließ Alexx, nach einem kräftigen Schluck aus der Pulle, dem P18 Etikett am Eingang Taten folgen und schickte mal eben eine nahezu jungfräuliche Pulle irischen Rachenputzers auf die Walz, während der „Antikörper“ die Halle rockte.
Mit „Phosphor“ ward hernach der erste Höhepunkt des Abends erklommen. Nur gut, dass Kapitan Leutnant Wesselsky sich nach Rücksprache mit seinem LI (Pix) rechtzeitig der Joppe und des Käppis entledigt hatte. Sonst wäre der Eisberg wohl vor den Augen der brodelnden Meute geschmolzen. Wobei Guitar Hero Jürgen schonmal als zweisilbiger Ersatzheld für den Ernstfall übte: „Jürgen, ein Wort an Deine Fans!“, forderte Alexx seinen Gitarristen mit gespielter Eitelkeit auf. Und der Held tat wie ihm befohlen: „Ser-vus!“, sprach das Idol und versetzte seinen Fanclub begriffsstutzig in Verzückung.
Den Herausforderer süffisant auf seinen Platz verweisende, redete ab jetzt nur noch einer! Der Captain! Auch ohne Kopfschmuck unschwer als solcher zu erkennen, musste er nach „Herzdieb“ „mal kurz zum Zahnarzt“! Auch eine Art ein kurzzeitiges Entschwinden zu überbrücken. Magdeburg, natürlich nicht doof, reagierte prompt indem es die mittlerweile halb leere Medizinflasche artig an ihren Absender zurückreichte. „Ihr seid aber brav!“, stellte Alexx mit prüfendem Blick auf den verbliebenen Restinhalt fest, genehmigte sich generös einen ordentlichen Hieb und schickte das sechste Bandmitglied wieder auf die Reise. Womit wir geschickt beim Thema wären: „Alkohol“.
„Ich bin in meinem Leben erst zwei mal betrunken auf die Bühne gegangen“, erinnerte sich Bayer-Alexx reumütig. „Das eine war in Nürnberg im Hirsch! An das andere kann ich mich nicht mehr erinnern…“. Den zusätzlichen Seitenhieb auf das freundschaftlich-nachbarschaftliche Verhältnis von Bajuwaren und Franken werden allerdings wohl nur Insider richtig verstanden haben. Von weiß(-bier-)-blauen Bayern darf man als Franke eben „Kein Mitleid“ erwarten! 😉
Aufs ewigste in den Jagdgründen verkruschtelt, holten die Eisboys anschließend ihren Debut-Opener „Herz steht still“ aus der Vitrine. Kommentar Alexx: „Ein Klassiker! Ach Mann, was sind wir alt geworden…aber Ihr seid schön geblieben!“. Dem war nichts hinzuzufügen. Ohnehin war der Punkt ab dem die Band spielen konnte was (und wie) sie wollte längst überschritten. Band und Publikum liefen auf vollen Touren. Ein Autopilot auf Schienen, unbeirrbar, im kollektiven Rausch der Mauer des Abschieds entgegen rasend. „Vergissmeinicht“, „Schwarze Witwe“, „Heilig“, alles egal…die Party war in vollem Gange und allmählich dämmerte den Eisboys, dass dies möglicherweise der richtige Abend für eine spontane Großtat sein könnte. „Sachsen-Anhalt, Niedersachen, Sachsen…ihr wollt wohl die Weltherrschaft erringen, was?“, gab sich der Checker begeistert. „Uns soll´s recht sein! Jetzt haben wir für euch einen, den wir noch nie live gespielt haben….außer gestern! …Kinder der Nacht!“.
Während der Zugabenblock im Anschluss den Deckel rund machte, stand aber noch eine weitere Premiere auf dem Programm. Kaum waren nach dem furiosen „This is Deutsch“ Gamshut und Casio-Klimper in die Ecke geflogen, brach auf beiden Seiten der letzte Damm. „Schätzelein zieh dich aus!“, blökte von irgendwo ein sexuell stimuliertes Alphaschaf, in der Hoffnung dem Wolf so seinen letzten Fetzen Stoff abspenstig zu machen. „Also auf Schätzelein hab ich mich noch nie ausgezogen! Eher im Gegenteil!“, parierte El Lobo vergeblich. „Zieh Dich auuuus Du geile Sau!“, verschärfte sich der Ton, worauf der bellende Hund schließlich doch noch biss und ein amüsiertes „Mensch jetzt halt doch mal die Fresse!“, gen Unbekannt schleuderte.
Spaß ist wenn man trotzdem lacht! Und dieser sollte noch reichlich folgen, als die Band sich spontan entschloss aus dem regulären Tourprogramm auszuscheren und eine Schnapsidee auf die Bühne zu bringen, die sich während der vergangenen Tage im Tourbus zusammengebraut hatte: „Weil ihr so geil seid, seid ihr jetzt selber Schuld!“ schaltete Alexx auf Schadenfreude und pflanzte sich , eine Akustikgitarre zur Hand. neben Jürgen auf den bereitgestellten Hocker. Inspiriert durch eine zufällig im Nightliner herumliegende DVD der ZDF Hitparade gaben die zwei nun eine zugegebenermaßen recht eigenwillige Interpretation des Michael Holm Klassikers „Tränen lügen nicht“ zum Besten. Wobei man ihnen anrechnen musste, dass der Song, abgesehen vom ungewohnten Bild eines Alexx mit Gitarre, im Laufe der Jahre schon schlimmere Cover über sich ergehen lassen musste.
Angesichts der fortgeschrittenen Stunde hätte das Konzert eigentlich mit dem obligatorischen „Miststück“ enden sollen. Dazu ließ Magdeburg es nicht kommen! Kaum hatten die Gladiatoren die Arena geräumt, rührte sich Widerstand gegen das vieeeeeeeel zu frühe Ende. Und wenn sich Magdeburger erstmal was in den Kopf gesetzt haben, bleiben sie so lange stehen, bis ihr Wille geschieht. Diese Erfahrung mussten schon andere Bands in der Factory machen, wie nun auch Eisbrecher.
Leger im Bademantel schlurfte Kapitän Alexx also zurück auf die Brücke, gefolgt von seiner Crew und der Maschinenraumbesatzung (aka Backline), die ihn während der finalen Aufführung von „Mein Blut“ mit (Frucht)fleisch und frischem Gerstentrank stärkten. Kurz vor dem kollektiven Dürretod fand damit ein grandioser Eisbrecher Vortrag seinen Abschluss!
Während die zufriedenen Fans wahlweise in Richtung Bar, Boardshop oder Ausgang entschwanden, wurde die Bühne verhängt und der Saal für die Aftershowparty vorbereitet. Licht aus Spot an für Discoqueen und Lackschuhkaiser! Saturday Night live mit DJ Rumpelbums vs. Elektroschneider… oder so ähnlich.
Abseits der Euphorie über die kurzweilig, humorvolle Eisbrecher-Druckbetankung, fielen unterwegs leider auch ein paar Haare in die Suppe, die vor allem technischer Natur waren. Zwar bot der Sound in der Factory prinzipiell keinen Anlass zur Klage, doch die zunehmenden Ausfälle auf dem rechten Boxenturm hätten bei einer weniger unterhaltsamen Show auch mal schnell zum Zerwürfnis mutieren können. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz und wir wären wieder beim Eingangsthema angekommen, dem zunehmenden Verfall der Factory. Bleibt nur zu hoffen, dass die Betreiber irgendwann die Kurve kriegen und uns eine der wichtigsten Locations im „Nahen Osten“ erhalten bleibt. Andernfalls dürften sich Konzertfans zwischen Berlin und Hannover beiden gegenwärtigen Tourplänen vieler Bands bald auf sehr weite Wege einstellen, wenn zunehmend mehr Bands möglicherweise in Zukunft einen Bogen um Magdeburg machen.
Kurzschluss zum Schluss: es war insgesamt ein gelungener Abend, der belegte, dass Eisbrecher (auch ohne Unheilig) weiter auf dem Vormarsch sind, selbst wenn an diesem Abend kein neuer Besucherrekord aufgestellt werden konnte. Humor, Spaß und Stimmung wogen dies mehr als auf und sollten Magdeburg auch für die Band zur besten Show der Tour werden lassen. Die So Fluid verkauften sich als Opener so teuer wie möglich, die Factory dagegen wirkte im Vergleich zu Frontchick Grog eher wie ein gerupftes Huhn.
In diesem Sinne: Licht aus, ab nach Haus!
Links:
Konzertfotos Eisbrecher Magdeburg 28.03.2009
Konzertfotos Die So Fluid Magdeburg 28.03.2009