Wenn ein brennender Komet die Erde trifft, ein Schakal zu tanzen beginnt und sich zwei gemeinsam allein fühlen: Dann ist das Lacrimosa. Und zwar at it’s best. Dann ist das zwar noch keine Revolution, wie der Titel der Tour verspricht. Und taufrisch erst recht nicht. So manch geneigter Zuhörer erinnert sich daran, dass das alles vor mindestens zehn Jahren mindestens genauso gut war. Und erinnert sich auch daran, einst in Begleitung dieser Titel die Berge und vor allem Täler des jugendlichen Seelenlebens durchschritten zu haben.
Aber egal. Wir schreiben das Jahr 2012 – und da vorn im Hamburger Grünspan steht ein gut gelaunter, von Leichtigkeit getragener Tilo Wolff. Der Clown schwebt im Bühnenhintergrund über seinem Kopf. Damals wie heute. Es ist das letzte Deutschland-Konzert der Revolution-Tour. Fast scheint es, als sei dem Wahlschweizer nach mehr als 20 Jahren Bühnenpräsenz das Pathos abhanden gekommen zu sein. Oder nach drei Jahren ohne Deutschland-Tour. Das gut dreistündige Feuerwerk durch die Lacrimosa-Historie beginnt mit dem brennenden Kometen und virtuosen Endlos-Soli mit dem Zeug zur extended Version im Jahr 1997. Weiter geht die Reise ins Jahr 2003. Zu Malina. Wolff dirigiert eine imaginäre Violine – wahlweise auch sein Publikum. Mit Schakal dringt Anne Nurmi mit einem finnischen Solo ins Bewusstsein der Zuhörer. Wolff rockt sich mit harten Riffs und Mandira Nabula ins Jahr 2009. Und wendet sich mit dem Feuerzug, höchstselbst sich am Piano die Ehre gebend, der jüngsten Gegenwart und damit erstmals dem 2012er Album Revolution zu. Da ist nichts mehr von altem Pathos und majestätischer Getragenheit. Das rockt. Den charismatischen Frontmann hält es kaum sitzend an den Tasten. Das gilt auch für die Lichtgestalt, dem Titelsong des 2005er Werkes.
Als mit „If the world stood still a day“ Anne Nurmi ihr Keybord im Stich lässt, um das Mikrophon zu erobern, kehren hartgesottene Fans der Bühne den Rücken, verlassen demonstrativ den Konzertraum. Böse Zungen behaupten: Das ist was anderes. Nicht Lacrimosa. Diesen Teil des Duos kann man singen hören, muss man aber nicht. Das soll wohl die Botschaft sein.
Erlöst wird die Zuhörerschaft von Alles Lüge. Bei den Tränen der Sehnsucht ein kurzes Durchatmen, bevor Wolff sich zu Allein zu Zweit aufmacht – und sich durch den Rausch der Nacht tanzt und schreit. Mit Irgendein Arsch ist immer unterwegs geht die Revolution weiter: Tilo Wolff feiert sich – und das Publikum mit ihm. Mit A prayer, Apart und Stolzes Herz geht dann auch nur die erste Runde des Konzerts zu Ende. Mit der Aussicht: „Der Zweite Teil wird dann etwas anders,“ kündigt Wolff an.
Kurz flackert die Idee auf, es sei vorbei mit den tanzbaren Stücken: Es werde Zeit für Besinnlichkeit und Schauerromantik! Für Stücke wie Refugium, Ich verlasse heut Dein Herz, Am Ende stehn wir Zwei, Weil Du Hilfe brauchst, Ein Hauch von Menschlichkeit und Ohne Dich ist alles nichts mag das durchaus zutreffen. Mit Not every pain hurts tauschen Wolff und Nurmi abermals die Rollen auf der Bühne. Doch die Rote Sinfonie kommt schon wieder in gewohnter Heftigkeit daher, bis, ja bis Tilo Wolff zur
Revolution anhebt: dem Grand finale eines grandiosen Konzerts. Da ist es vorbei mit der Besinnlichkeit. Da gibt er Gas, denn die Revolution ist die Evolution. Das Alpha und Omega eines Abends, der mit Der Morgen danach und Feuer in einem Rausch endet. Leider. Schon.
Da sei es Wolff verziehen, dass – und da war es wieder: das Pathos eines selbstverliebten Künstlers – irgendwann der Clown der Bühnendeko dem Konterfei des Künstlers weicht. Der Übermensch Wolff. Also ganz der Alte. Damals genauso gut wie heute. Oder besser.
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