Review: Kettcar – Wahrheiten auf den Punkt gebracht (31.01.2018, Dresden)

Text: Torsten Arndt.

Hinein ins Abteil, hinsetzen, anschnallen, ab geht’s! Im vollgepackten Kettcar-Anhänger muss ich mich auch nicht lange orientieren. Seit vielen Jahren spült es mir nun schon in schöner Regelmäßigkeit die Songs der fünf Hamburger in meine Playlisten. Und viele Male bin ich schon mit ihnen zu den Landungsbrücken raus oder über trostlose Deiche geschlendert.

Kettcar sind auf Tour zu Ihrem neuen Album ‚Ich vs. Wir‚ und in ihrem Metier seit Jahren eine Institution, eine musikalische Flutwelle, ein Indie-Rock-Schneepflug mit der geheimnisvollen Gabe, im richtigen Moment auf den Punkt zu kommen. So auch an einem Mittwoch in Dresden im Alten Schlachthof.

Keep on rocking, Kid

Kettcar (Foto: Kristin Hofmann bs! 2018)

‚Trostbrücke Süd‘ ist der Startpunkt meiner Reise im Kettcar-Anhänger. Gefühlvoller Start mit Akustik-Gitarre und Video-Installation. Und diese Video-Installation erweitert das Konzert noch um eine zusätzliche Dimension. Als würde ich durch eine Tür gehen und mitten im Song stehen. Ich fühle mich dadurch noch mehr ins Event hineingezogen. Der Start der alten Konzerthasen aus Hamburg gelingt impertinent gut, die Fans singen bereits „Wenn du das Radio ausmachst, wird die scheiss Musik auch nicht besser.“ Wie wahr und der Abend ist eröffnet.

Klassiker ‚Graceland‘ ist dran, das aber nicht ohne vorherige Feststellung, dass dieses Lied doch öfter den Ü30 Fans untergekommen sein kann. Grau und kahl fühlt man sich in diesem schlichten Moment. Aber auch das geht vorüber, denn die ersten wirklich hart gepressten Gitarrenbretter holen mich aus diesem lethargischen Moment. ‚Money left to burn‘ nennt sich das gute Stück und die staubtrockenen Akkorde erinnern mich daran, dass im Kettcar-Anhänger nicht nur geschmust, sondern auch mal heftig ausgeteilt wird. Für mich sind Kettcar musikalische Grenzgänger zwischen Indie und Rock, insofern man da eine Linie ziehen muss oder kann.

Für immer Löcher im Zaun

Kettcar (Foto: Kristin Hofmann bs! 2018)

Den ersten Gänsehaut Moment beschert mir ‚Sommer ’89‘. Diese Geschichte, die mir schon beim kontrollierten Abhören verschiedenster Musikkanäle Gänsehaut hervorruft, stellt live gespielt meine Haare minutenlang ins Achtung! Eine Welle nach der anderen peitscht mir rücklings den Nacken hinab. Wahnsinn. Lange nicht erlebt sowas. Dementsprechend lang und laut ist der Beifall des Publikums. Vermutlich sehen sie es ähnlich. Und dem anschließenden Satz von Herrn Wiebusch:

„Das Lied wurde einzig und allein geschrieben,
weil uns das Helfen durch Zäune erst zu Menschen macht,
das ist nicht verhandelbar.“

gibt es nichts hinzuzufügen. Auf den Punkt gebracht. Danke!

New York City vs. Wanne-Eickel

Kettcar (Foto: Kristin Hofmann bs! 2018)

Über ‚Wagenburg‘ ging es hinein in den Emo-Block mit ‚Balu‘ am Ende eines Schmuse-Trios. Und da zeigt sich die andere Seite von Kettcar. Gefühlvoll, nachdenklich und reflektierend. Klar, der Song hat ein paar Jahre auf dem Buckel, aber die Präsentation von Marcus Wiebusch – mit akustischer Gitarre – und Keyboarder Lars Wiebusch versetzt den Saal in eine friedlich liebevolle Stimmung. So weit, so gut, das hält nur nicht lange an, denn ‚Benzin und Kartoffelchips‘ watscht den gemeinen, in Träumen schwelgenden baluresken Zuhörer ordentlich ab. Hier entlang, scheinen die fünf auf der Bühne zu schreien. Und abermals bauen die Gitarren eine unbeschreiblich mitreisende und klirrende Wand auf, in dessen Einklang ein vierstimmiger Männerchor sie weiter nach vorn peitscht. Und das muss ich an dieser Stelle mal herausheben. Zu dritt oder sogar zu viert singen die Musiker ihre Hooks und unterstützen auf famose Art und Weise ihren Frontmann. Das hat Schnitt, das weiß zu Gefallen.

Aber wo sind denn nun meine Landungsbrücken?
Etwas Unruhe macht sich bereits in mir breit.
Sie werden doch nicht … ?

Und wer zum Teufel hat Kettcar als Polit-Punks schubladiert? Nur weil sie auf dem letzten Album ihre Finger deutlicher in die offenen politischen Wunden legen? Und woran erkenne ich eigentlich Polit-Punks? Ist die Musik als ehrlichster aller Träger nicht bestens geeignet, um sein Herz zu erleichtern, seine Meinung zu transportieren und Themen sichtbarer zu machen? Und da rede ich noch nicht von Revolution.

Löschen und spul zurück

Kettcar (Foto: Kristin Hofmann bs! 2018)

Das Final steht an, ‚Mannschaftsaufstellung‘ und ‚Ankunftshalle‘ vom neuen Album stellen sich dazu in eine rockige Riege und ‚Deiche‘ beschließt die erste Runde im Kettcar-Anhänger und forciert nochmal das Tempo. Ich halte mich fest.

Zugabe. Und nach dem zwischenzeitlichen Ausflug von Kettcar in den Hip-Hop, beim „Cover“ von ‚Der Tag wird kommen‘, darf ich endlich zu meinen ‚Landungsbrücken raus‘. Es ist mein Highlight des Abends. Liedzeilen wie:

Die Erinnerungssplitter liegen herum, ich trete rein.
Immer zu viel oder zu wenig in mir.
Einsehen zum Schluss, dass man weitermachen muss.

Löschen und spul zurück

habe ich öfter gefühlt als gesungen. Wahnsinn! Und nach dieser explodierenden Ekstase lugt kurz das Herz von Bassist Reimer Bustorff hervor, als er meint: „Danke Dresden, man merkt, wenn man an einem Fluss liegt!“ Ich hätte ihn abknutschen können. Wieder auf den Punkt gebracht! Danke!

Kettcar (Foto: Kristin Hofmann bs! 2018)

Den wohl intimsten Song vom neuen Album präsentieren Kettcar als 2. Zugabe. ‚Den Revolver entsichern‘ ist dran. Und intim bedeutet nicht leise, nicht verhalten, bedeutet vielmehr ehrlich, fast warnend! Und Kettcar presst zum Abschluss ihres herausragenden Konzertes in Dresden den letzten Tropfen an Energie in den Saal. Mit den abschließenden Worten aus diesem Song möchte ich den Deckel drauf machen und DANKE sagen! Beim Immergut sehe ich euch wieder.

Keine einfache Lösung haben, ist keine Schwäche
Die komplexe Welt anerkennen, keine Schwäche
Einfach mal die Fresse halten, ist keine Schwäche
Nicht zu allem eine Meinung haben, keine Schwäche

Galerien (by Kristin Hofmann bs! 2018):

Kettcar (Foto: Kristin Hofmann bs! 2018)

Setlist:

  1. Trostbrücke Süd
  2. Balkon gegenüber
  3. Graceland
  4. Money Left to Burn
  5. Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)
  6. Wagenburg
  7. Rettung
  8. 48 Stunden
  9. Balu
  10. Benzin und Kartoffelchips
  11. Tränengas im High-End-Leben
  12. Kein Außen mehr
  13. Im Taxi weinen
  14. Mannschaftsaufstellung
  15. Ankunftshalle
  16. Deiche
    Encore
  17. Auf den billigen Plätzen
  18. Der Tag wird kommen (Marcus Wiebusch Song)
  19. Ich danke der Academy
  20. Landungsbrücken raus
    Encore
  21. Den Revolver entsichern

Links:
Review: Kettcar – Hamburg hoch drei! (05.02.2018, Hamburg)
www.kettcar.net
www.facebook.com/kettcar/

be subjective!
be subjective!https://www.be-subjective.de
be subjective! music webzine est. 2001 Live-Berichte und Konzertfotos stehen bei uns im Fokus. Die richtigen Wort für neue Töne, musikalische Experimente, Stimmungen in Bildern gebannt, Mega Shows in neuen Farben. Der Atem in deinem Nacken, die Gänsehaut auf Deiner Haut, der Schweiß durchtanzter Nächte zum Miterleben und Nachbeben. Interviews mit Bands und MusikerInnen.  be subjective! aus der Musikszene für mehr Musikkultur. 

Weitere Artikel

Ähnliche Beiträge

Review: The Vision Bleak erzählen „Weird Tales and Other Haunting Stories“ – (03.11.2024, Dresden)

Es ist ein kalter Sonntagabend im November in Dresden....

Review: Rising From The North – Arch Enemy, In Flames und Soilwork (26.10.2024, Dresden)

Heute wird's heavy hoch drei! Bereits einige "heavy" Bands...

Review: Apocalyptica gegen den Herbstblues im Alten Schlachthof (12.10.2024, Dresden)

Der Herbst ist da. Der Sommer weg. Vorbei die...

Preview: The Vision Bleak mit „Weird Tales“ auf Tour [2024]

The Vision Bleak, die Meister des Horror Metal, ...