Review: Hannover ist Selig – Fährmannsfreitag f*** ey. (05. – 07.08.2016, Hannover)

Das Fährmannsfest, das kleine Woodstock an der Leine, es versteht sich als ein Stadtteilfest der besonderen Art, ein Musikfestival, das niemanden ausschließt, auf Inklusion und Vielfalt und nur sekundär auf ein fettes LineUp setzt. Entsprechend groß schreibt sich der Fährmann „Inklusion“ auf die Fahnen, gewährt der Lebenshilfe einen Kaffeestand von besonderen Ausmaßen, arbeitet mit Initiativen wie der Lebenshilfe Hannover – Normal in Linden, bietet in Zusammenarbeit mit der MHH einen Lotsendienst für Seh- und Gehbehinderte an und lässt zwei Berufswahnsinnige moderieren.

Jean Coppon & Stefan Henningsen (Foto: Isabelle Hannemann)
Jean Coppon & Stefan Henningsen (Foto: Isabelle Hannemann)

Jean Coppong (Baby, mach die Hockwende, Erotisch in Linden), der im feierabendblauen Konfirmationsanzug Hypotaxe bilden kann, die länger sind, als seine eigene URL und Stefan „Engelgert“ Henningsen (SpVgg Linden Nord, Postfach bei Jaqueline), die fleisch- und farbgewordene Produktplatzierung eines örtlichen Herrenausstatters, sind eine nicht geringe neuronale Herausforderung für die Zapfen- und andere Sinneszellen. Leider geil.

„Du bist schön und ich bin high
Du hast Lust und ich habe keine Zeit“

Stefan Henningsen (Foto: Isabelle Hannemann)
Stefan Henningsen (Foto: Isabelle Hannemann)

Fährmannsfreitag 05.08.2016

Epitaph… Es ist viel zu früh am späten Freitag Nachmittag, ganz früher Abend und nur eine handvoll derer, die ’s bereits ans Weddingufer geschafft haben, scheint zu wissen, was hier bzw. wie einem hier geschieht. Epitaph. Die legendären Epitaph. Die Stinkepunks in der ersten Reihe wissen sicher nicht, worauf sie gerade abgehen, andere kriegen sich kaum ein, weil sich hier 40 Jahre Musikgeschichte ein Stelldichein mit einem halben Orchester geben, um den Fans einen kleinen Live-Eindruck davon zu verschaffen, was sie können. Note to myself – und meinetwegen auch an die Pokémon-Punks –: Die Legenden da oben schrieben in den 1970ern Musikgeschichte, tourten als erste deutsche Band mehrfach in den USA teilten die Bühne mit Joe Cocker, Rory Gallagher, Golden Earring, ZZ-Top u.v.m. und haben offenbar viel Zeit im Studio und Proberaum verbracht, denn sie spielen vollkommen frei von Allüren, einander zugewandt, mit Streichern, einem Violinisten, einem Organisten,.. als sei das Woodstock. Der Eindruck mag in der Instrumeniterung täuschen, doch eines ist klar: Epitaph sind weitaus dynamischer als das perfekte Set, das Deep Purple, die sich 2015 von ihrem Support beinahe an die Wand der Swiss Life Hall spielen ließen, geliefert haben.

Epitaph (Foto: Isabelle Hannemann)
Epitaph (Foto: Isabelle Hannemann)

Jüngst krönten Epitaph ihr Schaffen übrigens mit „Fire From The Soul“ – das viel mehr Würdigung verdient – und sind das nächste mal am 27. August auf dem Kraut Rock Festival Garbsen live zu erleben.

Tüsn (Foto: Isabelle Hannemann)
Tüsn (Foto: Isabelle Hannemann)

Tüsn. Zugegeben, so ganz weiß man ja nie, was sich der Fährmann beim LineUp so gedacht hat. Heute folgt auf die ehrwürdigen Rocker, die locker über Fehler hinwegimprovisieren, die artifiziell intellektualisierte und durchkomponierte Designer-Synästhesie von Tüsn. Coppong, zitiert die Selbstbezichtigung der Band, die noch nackig durchs Backstage rennt.

Man(n) weiß es nicht, man(n) munkelt `s nur und begrüßt Tüsn, die

„Genre-Transzendenz für die Suchenden, die Verlorenen, die Anderen,für die Brut der Nacht.“

Tüsn (Foto: Isabelle Hannemann)
Tüsn (Foto: Isabelle Hannemann)

Auch Tüsn touren gerade [Tour], und sind es selbst: zu gerade. Das ist beim zweiten Hören durchaus etwas schade. Tüsn machen alles richtig. Sprachlich, ästhetisch, sympathisch, zum Erbrechen durchkomponierte Richtig- und Nichtigkeiten aus dem Abiturwissen, dem kleinen Katechismus und der Schwarz-Weiß-Ästhetik der Stummfilme vergangener Jahrhunderte. Perfektes Logo. Perfekte Manieren. Nicht mal Schimpfwörter klingen hier anzüglich. Durchaus gekonnt. Ob Makellosigkeit jedoch ein Makel ist, den Tüsns ausmerzen können, wird sich zeigen.

Selig Fährmannsfest 2016 (Foto: Isabelle Hannemann)
Selig Fährmannsfest 2016 (Foto: Isabelle Hannemann)

„Du bist so geil du kleines Stück
Du hast es gern doch bitte halte dich zurück
Ich lieg‘ so falsch in deiner Hand
Und du mach’s dir bitte selber“

Dem Fährmannsgesindel, das sich inzwischen im Wiesengrund scharrt, gefällt es, obgleich man hier auf das wahre Leiden, das Kratzen an den Wänden der Sehnsucht, auf den Kloß im Schlund der ungeküssten Momente wartet.

Selig. Ein Musikgewordenes Schmachten. Selig, 20 Jahre Pi mal Daumen, wen kümmern die Jahre, alter Schmerz pocht unter der Kruste, wenn Jan Plewka sich freitanzt. Selig lehren Fühlen, nähen mit Neanders und Schmidthals’ Stahlschwingen jedem noch so erstorbenen Hohlkörper Tränen ans Revers, Selig sind gefährlich. Poetisch. Zerbrechlich. Wenn man es ausspricht, wird es wahr. Selig reden nicht, Selig stöhnen. Selig kratzen Narben auf und eitern sich heiter.

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Selig (Foto: Isabelle Hannemann)

Wahnsinnlich rau rotzen Selig ein ausgesprochen rockiges Set in die Nacht, zerren erstaubte Wünsche ins Licht und besudeln die Traurigkeit mit Lachen. Selbstironisch. Glücklich. Fuck ey, Selig sind echt.

„Sie hat geschrien heut Nacht
wie eine Krähe im Wind
Sie hat geschrien heut Nacht
wie ein sterbendes Kind
Sie hat geschrien heut Nacht
sag mir was ist passiert
Was ist los mit Ihr“

 

Der Fährmannsfreitag endet auf Knocking On Heavens Door. Live gespielt, meint man sie sagen gehört zu haben, noch nie zuvor. Ist auch völlig egal. Hannover ist Selig.

„..es ist mehr als du siehst“

Im Abspann stehen in diesem Jahr natürlich noch unzählige weitere Bands und KünstlerInnen (von Beatbar, Dbaser, Das Lumpenpack,…  Terrorgruppe, Antilopen Gang u.v.m.), Slam und Co., das traditionelle Viva Con Aqua Becherwerfen, `ne pinke Hello Kitty Gitarre, all die ungenannten TechnikerInnen, die HelferInnen, Kinderschminken und -machen, aber man soll ja aufhören, wenn’s am schönsten ist. Für immer und Selig.

Fährmannsfest 2016 (Foto: Isabelle Hannemann)
Fährmannsfest 2016 (Foto: Isabelle Hannemann)

„Als der große Regen vorbei war
Stieg sie aus ihrem Bett in die Nacht
Nahm den Fahrstuhl zu Sternen
Hoch hinaus aufs graue Dach.“

Galerien Fährmannsfest 2016

Antilopen Gang (Foto: Isabelle Hannemann)
Antilopen Gang (Foto: Isabelle Hannemann)

Links:

www.faehrmannsfest.de
www.selig.eu
www.epitaph-band.de
www.tuesn.de

Isabelle Hannemann
Isabelle Hannemannhttp://www.isabellehannemann.net
Die missratene Hypotaktikerin wird als Redakteurin Schrägstrich Fotografin bei be subjective! geduldet, hat versucht sich als freie Autorin und Herausgeberin verschiedener Artikel und Bände im Bereich der kritischen Sozialwissenschaft für Suchmaschinen selbst zu optimieren und will – wenn sie groß ist – mal sehen. Künstlerisch als Autorin und Fotografin mit diversen Bands und AutorInnen zusammenarbeitend, Texte zu Papier, Gehör und auf die Bühne bringend. Na dann Prost Mahlzeit!

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