Eigentlich hätte man diesen Tag ganz entspannt, easy peasy, ausklingen lassen können. Irgendwo am Maschsee sitzen, auf das Wasser blicken und bei einem Kaltgetränk den Sonnenuntergang genießen. Das wäre bestimmt ein fabelhafter Tagesausklang gewesen. Der Tag war schon von großer Hitze geprägt, Wärme die einen zermürbt, fertig macht. Und jetzt nochmal aufrappeln. Boah. Keine Zeit für Ausreden. Konzert geht ja immer. Schön Open Air mit Ronan auf der Gilde Parkbühne. Das wäre eine schöne Sache, da so unter den Bäumen. Aber nix da. Also auf zum ausverkauften Capitol. Da gleich erstmal zum Ordner und ihn fragen, wie lange die Veranstaltung angesetzt ist. 21:00 – 23:00 Uhr. Watt, solange? Seid ihr irre? Das muss was Großes sein. Ja, irgendwie schon. Es ist
Groß. Statt. Geflüster.
Die Berliner Elektropop-Band Grossstadtgeflüster hat tatsächlich das Capitol ausverkauft. 1600 Fans stehen dicht gedrängt in diesem altehrwürdigen Venue. Und Fans, die hier schon mal einen Sold-Out-Gig erlebt haben, wissen was das heißt. Temperaturen im Sauna-Bereich, schlechte abgestandene Luft und irgendwie auch eine geile Atmosphäre.
Aber hat die Truppe eigentlich genug Lieder, um 2 Stunden aufzuspielen? Na sicher. Die Band gibt es ja schon seit 2003, da hat sich einiges an Song-Material angehäuft. Sängerin Jen (heißt eigentlich Jennifer) Bender, Keyboarder Raphael Schalz und Chriz Falk am Schlagzeug haben mit Ihrem 2024er-Album „Das Über-Icke!“ nochmal ordentlich nachgelegt. Die Songs bewegen sich zwischen Kunst und Kommerz, Ballermann und Bierseligkeit, Pop und Punk, Deichkind und Scooter. Auf jeden Fall machen sie Spaß und das ist ja irgendwie auch der Auftrag der Band. Nicht so viel Spaß hat Jen an Ihrem Bühnenoutfit. In Schwarz mit langärmligem Jackett. „Wer hat denn ditt ausgesucht?“ meckert die Sängerin. Egal. Mit „Ketchup“ geht’s los. Der darf ja auf keiner, auch noch so feinen Party, fehlen. „Wenn ich deine Eltern wär“ ist ein schönes Lied über das Lernen, Learning by Doing und die oft schmerzvollen Erfahrungen daraus. Die Texte von Großstadtgeflüster sind tatsächlich mit einem GEMA-Musik-Autorenpreis ausgezeichnet worden.
Scheitert das System am Menschen?
Oder der Mensch am System?
Überwindet unsre Schlauheit alle Grenzen?
Oder sind wir schlicht zu blöd zum Leben?
Witzige Wortspiele, ironisch mit Tiefgang und mit kraftvoller, charismatischer Stimme vorgetragen. Irgendwie Nina Hagen mit Berliner Schnauze. Dass die Ansagen zwischen den Songs oftmals länger ausfallen, nimmt etwas die Stimmung raus. Geschenkt. Liegt halt an der Sauna-Luft. Immer wenn die Temperatur etwas nachlässt, macht die Band einen neuen Aufguss und heizt wieder an. „Feierabend“ ist hier noch lange nicht. Voll am Ackern sind hier Ordner und Sanitäter. Ob Fans hier umkippen, ist nicht zu erkennen. Dafür leisten die Helfer exzellente Präventivarbeit, zapfen Becher für Becher Wasser und reichen diese ins Publikum. Glücklich schwitzende Menschen sind sehr dankbar dafür.
Und dankbar sind auch die Fans, die alle Songs, auch die neuen, lauthals mitsingen. Das ist nicht „Haufenweise Scheisse“ und schon gar nicht „Verschenktes Pontential“, sondern eher was von „Icke“. „Huckepack“ auf der „Fickt-Euch-Allee“, mit ganz viel langgezogenen eeees im Refrain. Heeeeerlich. „Matrjoschka“ ist ein sehr politisches Lied vom neuen Album und da in Hannover ja Tourauftakt ist, kann es schon mal vorkommen, dass die Sängerin den Text vergisst, weil alles noch nicht so eingegroovt ist. Kein Problem. Frau Bender kann auch sehr gut über sich selbst lachen. Den Spott der Bandkollegen hat sie sowieso. Doch die Frau ist Profi und liefert dann souverän mit diesem Song den heimlichen Höhepunkt des Abends ab. Was kann jetzt noch kommen? Fast die Krönung mit „Diadem“, wäre da nicht der Übersong „Ich muss gar nix“. „Das musst du gelesen haben (nein muss ich nicht. Das musst du probier´n (nein, muss ich nicht), das musst du gesehen haben (nein, mus…)“. Doch, Grossstadtgeflüster muss man tatsächlich gesehen haben und um es mit den Worten der Band zu sagen: Ich muss gar nix außer schlafen, trinken, atmen und f*****. Und frenetisch applaudieren, nach Hause fahren, duschen, trinken, essen und ins Bett fallen und schnell einschlafen. Wenn es doch nicht so warm wäre. Und wer ist eigentlich dieser Ronan? Gute Nacht aus Hannover.
Galerien (by Michael Lange bs! 2024):
Setlist:
- Ketchup
- Wenn ich deine Eltern wär
- Ich rollator mit meim Besten
- Mein Bier
- Ende Gelände
- Wie man Feuer macht
- Neue Freunde
- ICKE!
- Weil das morgen noch so ist
- Verschenktes Potential
- Ich boykottiere dich
- Blaues Wunder
- Feierabend
- Hallus
- Keiner fickt mich
- Leben am Limit
- Ich kündige
- Haufenweise Scheisse
- Huckepack
- Fickt-Euch-Allee
- Encore:
- Matrjoschka
- Diadem
- Ich muss gar nix