Review: Friedemann – „…weil künstlerische Freiheit und so“ (29.04.2017, Osnabrück)

Es gibt diese Abende in den großen Sälen mit den berühmten Bands auf riesigen Bühnen, mit langen Menschenschlangen, wahnsinnigen Lichtshows, unnötigem Kunstnebel, schlecht gelaunten Securities und mensch meint, dies seien die ultimativen Konzerterlebnisse, die jeden überteuerten Euro wert wären.

Ein Abend mit Friedemann hingegen ist nichts von alledem.
Ein Abend mit Friedemann kostet zehn oder vierzehn Euro (so genau weiß das in Osnabrück niemand).
Ein Abend mit Friedemann dauert etwa 105 Minuten.
Ein Abend mit Friedemann ist dunkel.
Ein Abend mit Friedemann findet in dem kleinsten, alternativen Laden in deiner Stadt statt.
Ein Abend mit Friedemann ist mindestens genauso wertvoll, wie eine dieser großen Shows.

Das Entscheidende ist das „mit“.

Friedemann (Foto: Thea Drexhage bs!)

Im Osnabrücker Bastard Club gibt es eine Bar. Klein, düster und verraucht, plakatiert mit den Plakaten der großen und kleinen Musiklegenden. In der vordersten Ecke des Ladens befindet sich eine heillos überfüllte Bühne, auf welcher auf magische Weise auch noch die vier ausgewachsenen Musiker mit und um Friedemann Platz finden. Während bei den großen Shows nun das Licht ausgeht und der Kunstnebel zu irgendeiner epischen Einlaufmusik zu wabern beginnt, bevor die Musiker vollkommen durchchoreografiert zu ihren Instrumenten schreiten, gehen drei der vier entspannt durch die Wartenden auf die Bühne, um dann ebenfalls auf Nr. 4 zu warten. Alles entspannt. Nachdem auch Janko sich zu Matze, Johannes und Friedemann gesellt, wird der Abend nach einem kurzen Schnack mit „Vogel“ eingeleitet.

„Vogel“

Friedemann (Foto: Thea Drexhage bs!)

Zu jedem der folgenden Songs gibt es eine Geschichte oder Anekdote von Friedemann, vorgetragen mit dem rauen Akzent der Küste Vorpommerns, welcher sich auch in jeglichen Texten widerspiegelt. Zugegeben, ein Abend mit Friedemann besteht nicht aus feinen Melodien und verschnörkelter Poesie, aber das muss er auch nicht. Es geht ehrlich und direkt zur Sache, sowohl bei den Solosongs als auch bei den COR-Adaptionen. Musikalisch vielfältig thematisiert er Leben, Zeit, Freiheit, Begegnungen, Verschwendung, Konsum, Engstirnigkeit, die guten und die schlechten Dinge die uns umgeben und den „seelisch hässlichen Wildschweinmenschen“ – mal dezent verpackt, mal plakativ und direkt heraus.

Der stark tätowierte Mann, der vielleicht in jeder anderen Situation etwas bedrohlich wirken würde, erzählt bemerkenswert ehrlich und mit viel Witz Geschichten aus dem Alltag, dem Kontrast zwischen dem Leben in der Familie und dem Leben auf Tour. Den schönen und den schwierigen Seiten des Musikerdaseins und wie wenig man letztendlich als Künstler verdient. Aber auch das ist Ok, wie zum Beispiel in „Haben und Brauchen“ besungen.

Kein Verlangen nach aber und könnte vielleicht
Und die Hände voll Gold und das Lachen im Herzen
Das behalte ich für immer das bleibt
Wenn du hast was du brauchst was fehlt dir

Friedemann (Foto: Thea Drexhage bs!)

Es sind Texte und Geschichten, welche die ZuhörerInnen letztendlich unbewusst zur Selbstreflektion zwingen. Was ist richtig? Was ist falsch? Was kann ich verbessern? Doch der Abend selbst ist keinesfalls bierernst oder bedrückend. Die Musik macht Spaß, ist abwechslungsreich und zieht die wenigen Gäste in ihren Bann. Nur wenig wird im Hintergrund geredet. Ganz nach dem Motto „Wer hören will, muss schweigen“ wird genau beobachtet, was auf der Bühne geschieht und das ist bei Konzerten dieser Art eher selten. Die 105 Minuten vergehen wie im Flug. Nach lauten Stücken wie dem „Lampedusa Blues“ und „Nix können alles machen“ und ruhigen Liedern wie „Stille“ und „Segeln“ wird der Abend mit „Gott“ beendet. Ein Lied, welches ein für alle Mal die ewige Diskussion um die sagenumwobene höhere Macht beendet: bei Gott handelt es sich selbstverständlich um

Friedemann (Foto: Thea Drexhage bs!)

Lemmy Kilmister.

„Ein Sexsymbol, das Warzen trägt
Ein räudiger Bassist
Ein Spieler, ein Trinker
Ich hab gewusst, dass Gott ein Rockstar ist“

Jetzt wissen wir es alle.

Eine Zugabe im eigentlichen Sinne gibt es nicht, dafür einen kurzen Schnack beim Kauf einer Platte oder einem, von dna-merch fair produzierten, Shirt.

Fetzt auch.

Galerien (by Thea Drexhage bs! 2017):

 

Friedemann (Foto: Thea Drexhage bs!)

Setlist:

1. Vogel
2. Paola
3. Nackenbrecher
4. Haben und Brauchen
5. Knall
6. Anders gedacht
7. Geräusch
8. Heimatlos
9. Lampedusa Blues
10. Freiheit
11. Sinn
12. Frieden
13. Gejammer
14. Sklaven
15. Möglichkeiten
16. Wer hören will muss schweigen
17. Ein Lied aus Stille
18. Nichts können
19. Segeln
20. Daneben
21. Wo soll‘n wir hin
22. Gott

Links:

www.friedemann-ruegen.de
www.ruegencore.de
www.dnamerch.de

 

Thea Drexhage
Thea Drexhagehttps://www.be-subjective.de
Thea Drexhage hat Salma Hayek einiges voraus! 10 mm. Wie die meisten Frauen der Redaktion, Duffy, Beth Ditto, Joan Rivers oder Angus Young kann sie die MusikerInnen aus dem Bühnengraben also völlig problemlos sehen, wenn jemand ihren Hocker trägt, wird aber - das hat sie mit Salma dann doch wieder gemein - dennoch viel zu oft auf Ihre Körpergröße, ihre Mähne und ihre leicht misanthropischen Anflüge reduziert. Damit sie also nicht im nächstbesten Titty Twister von Sonnenunter- bis Sonnenaufgang Menschenmengen und Bläser mätzelt, halten wir “Aggro-Thea”, die zuvor ganze Landstriche in Mecklenburg Vorpommern ausgerottet hat, halbtags im spießbürgerlichen Oldenburger Exil an der langen Leine. Seither legt sich die scheißpünktliche existentialistische Besserwisserin analog mit Sartre, Camus & Kodak an und ja, auch wir müssen neidlos zugestehen, dass der Instagram-Account ihrer beiden Katzen “Salma” und “Hayek” mehr Follower pro Tag hat, als unser webzine im ganzen Jahr.

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