Wie geht man eigentlich damit um, dass die Kindle-Bühne die Akkreditierung für Deichkind nicht rausrücken will, weil sie unseren Blog für „unbedeutend“ hält? Richtig! Man schnappt sich eine bessere und zieht sich mit über 12.000 Fans Sir FUCKING Elton John rein (!):
Nervös und aufgetakelt wie zum ersten Date, stehe ich vor der Mercedes-Benz-Arena. Ein unangekündigter Platzregen hat mich pudelmäßig durchnässt, doch die verständnisvollen Blicke vom Personal nehmen mich warm in Empfang. Routinierte Wegbeschreibung, kurz flauschige Fahrstuhlmusik und schon trockne ich im weitläufigen Foyer. Überall erlesen gekleidete Fans und Hochglanzwerbung. Der halbe Liter Bier kostet 5,50 Euro. Aber Elton John lässt sich ja auch nüchtern ertragen. Ein toller Platz im Unterrang. Leicht frierend bin ich zufrieden. Pünktlich wird dann das Licht gelöscht.
Für ein paar Sekunden leuchten über uns nur die 59 Zuschauersuiten wie Sterne aus dem erwartungsvollen Dunkel. Doch schnell verdunkeln auch die. Denn natürlich gibt’s nur eine Sonne am Pop-Himmel und die springt lila-rot glitzernd auf die Bühne.
The Bitch is Back!
Augenblicklich brennt die Bude. Es ist unglaublich, wie ein kleiner, leicht watschelnder Mann mit seinen 70 Jahren in Sekundenschnelle ein Riesenpublikum entzünden kann. Und nur beim Klavierspielen hält es ihn auf dem Hocker. Ansonsten springt er ständig auf und peitscht die Stimmung an. Von seinem Publikum erwartet Elton John genauso viel wie es von ihm. Und um das gleich vorwegzunehmen: während die Leute wieder und wieder in eine gewisse bürgerliche Konsumentengemütlichkeit verfallen, hält er sein Power-Level über zwei Stunden konstant. Solche Musiker wie er, die ihren Olymp erreicht haben, altern offenbar nicht mehr. Nur zwischen den Songs gibt es den very british Understatement-Elton-John:
I hope you enjoy the songs we choose
Zwar funkelt er in seinem Outfit wie ein hyperaktiver Rubin, doch der wahre Star jeder Show ist seine Musik. Das akzeptiert auch er. Also verplempert er keine Zeit und legt mit Bennie and the Jets, Take me to the Pilot oder Daniel Hit auf Hit nach. Wer hat der kann. Irgendwann streunert Elton John mit Looking Up und A good Heart auch ein wenig durch’s aktuelle Album, Wonderful Crazy Night. Das ist wichtig, denn dafür ist er ja in Berlin. Letzterer Song übrigens sein Lieblingstrack auf der Platte: Durch tiefrote Lichtkegel auf sonst finsterer Bühne wogt sich die pathetische Ballade durch die wuchtigen Wellen von Elton Johns brillanter Stimme. Auch nach über 40 Jahren Showbiz hat er es immer noch drauf, uns mit seinen Schnulzen ernsthaft zu verzaubern. Aber natürlich kann der britische Blingbling-Bengel wesentlich mehr als nur poppigen Rock und schunkelnde Balladen. Und wie zum Beweis serviert uns der wandlungssüchtige Vollblut-Musiker so raffiniert verspielte Frühwerk-Hits wie, Philadelphia Freedom oder Levon.
Wandlungssüchtiger Voll-Blutmusiker
Jetzt bekommt auch Davey Johnstone seine großen Momente und kann die Seiten seiner Klampfe nach Herzenslust rupfen. Untermalt natürlich von Elton Johns sich immer mehr ins Frenetische steigernden Klaviereskapaden. Ich liebe es ja total, wenn sich auf der Bühne zwei Alphatiere gegenseitig hochschaukeln. Der berechtigte Applaus verklingt, doch die Bühne verharrt stockdunkel. Einsamer Spott nur auf den virtuosen Flügel-Maltreteur: Mehrere Motive in ausgelassenen Melodieschlingen jammen eine weit schweifende Interlude in die angespannte Stille. Merklich schwingt sich das geheimnisvolle Stück in ungeahnte Höhen. Erst nach über sieben Minuten, als es vor Spannung niemand mehr aushalten kann und jeder wissen will, wohin diese Reise gehen soll, gibt Elton John endlich die magischen Worte frei:
She packed my bags last night pre-flight
Rocket Man! In meinem ganzen Leben wollte ich eigentlich nie Astronaut werden – in diesen beeindruckenden 15 Minuten schon.
Wer jedoch glaubt, dass damit schon das ganze, große Konfetti verpulvert worden wäre, der wird schnell eines Besseren belehrt. Have Mercy on the Criminal oder Burn down the Mission – dieser Abend hört einfach nicht auf geil zu sein. Mittlerweile ist auch die im Publikum lantent immer irgendwo lauernde Gemütlichkeit passé. Spätestens mit I’m still standing hat es sich durchgesetzt, dass nicht nur vorne getanzt werden darf, sondern auch oben auf den Rängen. Und bei Cokodile Rock singt die Halle sogar geschlossen mit. Zugegeben, das hätte ich diesem Publikum nicht zugetraut.
Dazwischen streut Elton John wohl dosiert noch Balladen wie Your Song ein – Handylichtermeer inklusive. Und als er mit Don’t let the sun go down on me1 an seinen letztes Weihnachten verstorbenen Best Buddy George Michael erinnert, hat auch der Autor dieser Zeilen ganz kurz irgendwas ins Auge bekommen. Solche Musiker wie er [Red.: George Michael], die ihren Olymp erreicht haben, altern vielleicht nicht aber sterben irgendwann.
Und klar macht einen so etwas nachdenklich. Ich meine von dieser ganzen Band da vorn ist jeder einzelne ein gutes Jahrzehnt älter als meine Eltern – Ray Cooper könnte vielleicht sogar fast als mein Großvater durchgehen! Und trotzdem tischen sie nach knapp zwei Stunden mit Saturday Night’s Alright For Fighting nochmal so richtig auf. In opulenten Soli verabschieden sie sich ausgiebig, bevor uns Elton John dann solo mit seinem melancholischen Kronjuwel Candle in the Wind nach hause entlässt. Hoffen wir, dass er noch eine ganze Weile brennt!
Text: Raffael Lenz, Berlin
Setlist:
- The Bitch is Back
- Bennie and the Jets
- I guess that’s why they call it the Blues
- Take me to the Pilot
- Daniel
- Looking up
- A good Heart
- Philadelphia Freedom
- I want Love
- Tiny Dancer
- Levon
- Rocket Man
- Have Mercy on the Criminal
- Your Song
- Don’t let the Sun go down on me
- I’m still standing
- Crocodile Rock
- Your Sister can’t twist
- Saturaday Night alright for fighting
Encore: - Candle in the Wind
Anmerkungen:
1 George Michaels liebte diesen Song. 1985 sang er ihn mit Elton John beim Live Aid Konzert und 2000 mit Luciano Pavarotti im Duett.
Links:
www.eltonjohn.com