Review: Diorama per Livestream – f*ck you Corona (18.04.2020, Reutlingen)

In den heutigen Corona-Zeiten müssen wir wohl alle etwas kreativ werden. Lieb gewonnene Traditionen, eingefleischte Gewohnheiten und übliche Lebensrhythmen werden umgeworfen und finden nun andere Bahnen. Ein Resultat dieser Situation ist konzeRTstream, ein Zusammenschluss verschiedener kultureller-musikalischer Einrichtungen aus der Region Reutlingen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Musik live zu uns ins Wohnzimmer zu bringen. Ein Wohnzimmerkonzert also, aber ein wenig anders interpretiert. Als Reutlinger Band ist Diorama natürlich mit dabei und versüssen uns so einen Samstag Abend.

Pünktlich um 20 Uhr finde ich mich aus Rücksicht auf meine Nachbarn mit Kopfhörern, einer bequemen Jogginghose und einem Bier auf dem Sofa ein. Zeitsparend ist das Ganze ja schon, kein Stylen, kein Anfahrtsweg, kein Anstehen. Wenn dann auch noch die Internetverbindung stabil bleiben würde. Aber auch das gibt sich mit der Zeit.

Und was passiert zur gleichen Zeit in Reutlingen? Torben Wendt und Felix Marc mit technischem Support im Hintergrund schalten sich zu. 2x Vocals, 2x Keyboard, animiert mit Bildern an der Wand und nach einigen anfänglichen Worten geht es los. Die reduzierten Bandmitglieder sind der akutellen Situation mit ihren Richtlinien geschuldet. Und wie immer brauchen die beiden ein paar Songs zum warm werden. Während die Songs anfänglich recht melancholisch und traurig ohne den typischen Diorama-Pep rüberkommen, spielen sich die beiden mit jedem Song mehr warm, werfen sich verbale Bälle zu und rocken wie gewohnt das Studio. So sehr, dass die Technik ganz durcheinander kommt. Auch nichts ungewöhnliches bei einem Diorama Konzert, aber wie gewohnt ist das schnell wieder behoben.  

Thematisch steht das Thema Hoffnung im Mittelpunkt, aber Diorama haben auch wieder eine interaktive Idee: sie scheuchen uns alle vom Sofa auf und bitten uns, eine Kerze anzuzünden und ihnen ein Foto oder Video davon zu schicken. Wir dürfen gespannt sein, in welcher Form wir diesen Fotos und Videos wieder begegnen. Aber bei allem Ernst darf ein wenig Spass nicht fehlen, so performen Torben und Felix den Song Ignite mit Masken. Und nein nicht mit Corona-Masken, sondern eher mit Leder-Fetisch- Masken. Und natürlich darf Musik auch Emotionen und Gefühle kanalisieren. Bei Off scheint es, als ob sich die beiden gleichsam ihren Frust und die Anspannung von der Seele schreien. Tut gut, auch als Zuschauer. Danach haben sich die beiden ausreichend warm gespielt und haben den üblichen Diorama-Groove gefunden und das Konzert wird zunehmend zu einem Genuss und weckt Erinnerungen an vergangene Diorama-Konzerte.

Dank der Ansagen und Witzeleien kommen die Zuschauer statt der angekündigten einstündigen Performance in den Genuss von anderthalb Stunden Alltagsflucht. Und das geniessen neben mir knapp 1900 andere Menschen.

Und wie ist diese neue Form eines Konzerts? Komisch, die Stimmung und das Gemeinschaftsgefühl fehlen. Das geht nicht nur mir auf dem Sofa so, sondern auch den beiden Musikern, denen das Feedback aus dem Publikum fehlt. Aber alles in allem ist es besser als sich alte Livemitschnitte anzuschauen und es bleibt die Vorfreude, irgendwann wieder zu einem richtigen Konzert gehen zu können.  

Und unter vorgehaltener Hand mit diversen vorausgesetzt dass murmeln sich Diorama in den Bart, dass wir vielleicht im Herbst in den Genuss des neuen Albums garniert mit einer Live-Tour kommen. Wir drücken die Daumen!

Setlist:

  1. Hope
  2. Exit The Grey
  3. Off
  4. Light
  5. HLA
  6. Child of Entertainment
  7. Home 2 Millions
  8. Gasoline
  9. Ignite
  10. Synthesize Me
  11. The Long Way Home

Links:
http://diorama-music.com
https://konzertstream.org

Judith Sander
Judith Sanderhttps://www.be-subjective.de
Es gibt Sucht-Charaktere, die entsagen und es gibt andere, die setzen sich ins Epizentrum ihres Verlangens. Nein, Judith ist keine Schweizer Taschenmesserwerferin, sie ist bekennend schokoladensüchtig und metzelt ohne zu zucken für ‘ne Toblerone oder Eiscreme oder Tobleroneeiscreme oder.. na jedenfalls: Die Frau ist echt Zucker, echt hart drauf, hat ein feines Näschen, legt sich für die richtigen Dinge ins Zeug, in die Kurve und nascht am allerliebsten an kleinen, unbekannten Bands in ruhiger Atmosphäre. Wer die olle Genießerin dennoch ans Messer liefern will, sperrt sie – in einen rosa Rüschen-Alptraum gehüllt – mit stinkenden Dränglern ins Musikantenstadl und nimmt ihr das letzte Milkyway weg.

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