Start Events Konzertberichte Review: AnnenMayKantereit – Länger bleiben, tanzen, l(i)eben (14.02.2017, Hannover)

Review: AnnenMayKantereit – Länger bleiben, tanzen, l(i)eben (14.02.2017, Hannover)

AnnenMayKantereit (Foto: Torsten Volkmer bs! 2017)

Es ist schon zu lange dunkel gewesen, nicht nur dies-, sondern auch jenseits des Tellerrandes. Europa ist kalt, Amerika vertrumpt und dennoch ist der 14. Februar ein Tag an dem mensch versucht ist, sich eine rosa Vulva-Häkelmützchen über die blasse Stirn zu ziehen, um für One Billion Rising und V-day zu tanzen.

Zugegeben, die Mütze ist gestrickt, schwarz und macht unsichtbar, aber innerlich tanzt mensch heute für Respekt, Frieden und Hoffnung und wagt die steile These, dass 50 Prozent der ausverkauften Swiss Life Hall eher die Vaginamonologe im Jutebeutel haben als unvegane unfaire vernestlete Herzpralinen.

Entsagung ist das Must Have der Generation low carb,
da passt der bescheiden durchkomponierte ‚Nicht-Nichts’-Look von AnnenMayKantereit wie das Europalettensofa ins Containerdorf.

Oliver St. Louis (Foto: Torsten Volkmer bs! 2017)

Aber ganz ernsthaft, wer von der ‚Kellerclub-umsonst-und-draußen-Kombo’ zu einer in ‚Null-Komma-Nix-die-Tour-komplett-ausverkauft-Band’ avanciert, muss den Nerv einer Generation, die nichts und viel zu viel zu tun, zu sagen, zu verlieren und zu wünschen übrig hat, schon irgendwie berühren. 21, 22, 23.

Wahwoom. Oliver St. Louis, der viel zu viel Sexappeal im Schlepptau hat, stürmt hier – das imaginäre V-Mützchen wurde gerade gegen rote Wangen eingetauscht – jeden Schlüpfer mit einem ‚Space Oddity’ Intro. Ich bin sicher David Bowie hätte Mick Jaggers Angie posthum für St. Louis sofort verlassen, hätte er das gehört. Mag sein, dass die Brisk-Abonnenten mit Major Toms Funk nicht so wirklich viel anfangen können, doch spritzt ein kehliges Kreischen aus der nerdigen Masse, als Oliver St. Louis ein

„Happy Valentine’s Day for all the lady’s out there“

… in die Halle zwitschert.

Oliver St. Louis (Foto: Torsten Volkmer bs! 2017)

Major St. Louis hat’s drauf, ob als Alleinunterhalter oder Funkgenie, der Supportact fordert heraus und zum Mitsingen auf. Sind wir mal ehrlich, Funk ist dann doch zu konkret für die ‚Alles Nix Konkretes’ Crowd. Schade, denn Oliver Twist’n Soul ist so ’ne Art diplomierter Oxford-Batman. „A scientist by day; recording artist by night.“ Wenn’s da nicht bei der/dem ein oder anderen intellektuell bis in die Stickmützchen geFunkt hat.

21, 22, 23. AnnenMayKantereit. Wo kamen die eigentlich her und warum sind die so verdammt nett? Wie können die mit Anfang zwanzig so erfolgreich und so bescheiden wirken? Der ‚Wohin gehst du’ Schnellstart, schneidet vorerst die Gedanken ab und das gesamte Publikum tanzt, singt und springt.

AnnenMayKantereit (Foto: Torsten Volkmer bs! 2017)

AnnenMayKantereit müssten eigentlich einen vierten Namen huckepack nehmen, das macht die Bandvorstellung von Christopher Annen, Henning May, Severin Kantereit und Malte klar, der eigentlich auch nicht Valentin, sondern Huck, heißt. Macht aber auch nichts an diesem Valentinstag. „Malte ist wirklich ‚n toller Vogel“, aber

vier gewinnt eben nicht im Goldenen Schnitt.

Apropos Perfektionisten. Mag sein, dass die vier glorreichen Drei in legerem T-Shirt, abgerockter Mütze und Schluffischluppen daherkommen, tatsächlich wird hier das Lagerfeuer-Lichterkettenfeeling sehr hochwertig inszeniert. Statt grobem Molton schnörkeln sich eleganter Stoff und Glühbirnenminimalismus in den Abend, die jedem einzelnen Song eine eigene Lichtstimmung verpassen. Wen wundert’s also, dass das Krokodil – der Song für den Tontechniker – in grün getaucht ist. Das Publikum saugt alles auf und kennt die Codes, kein Smartphone stört dieses Konzept, zu groß wäre wohl die Demütigung, die mit der Anti-Handy-Hymne ‚Du bist überall (nur nicht hier)’ im Set lauert.

AnnenMayKantereit (Foto: Torsten Volkmer bs! 2017)

Generell haben es AnnenMayKantereit faustdick hinter den Ohren. Die sind so ekelhaft nett, die bedanken sich sogar bei Publikum und Putzkolonne, das tut keinem weh und wird von vielen um so kritischer beäugt. Die Jungs haben – das lassen die Kompositionen ahnen – vermutlich eine musikalische Ausbildung genossen, nie was anderes gewollt, als Musik zu machen und durchbrechen die Perfektion immer wieder durch raue, andersartige Sounds und schnodderige Halbsätze. Obendrauf bitterschöne Poesie.

„Lyrics outta life“.

Henning Mays spezieller Gesang, der ein bisschen an Gilbert Bécaud, Norbert Leisegang und natürlich Rio Reisers rotzigen Ungesang erinnert, tut das Übrige. Weniger politisch vielleicht. Weniger selbstzerstörerisch. Vielleicht. Weniger Punk und mehr Pocahontas. Vielleicht. Alles singt.

„…
und dann rauchen wir am Fenster
aber wir müssen ein bisschen leiser sein
sonst wacht mein Mitbewohner auf
und dann will der auch was trinken“

„Das ist so eine der unangenehmsten Bühnensituation, wenn Leute deinen Namen rufen und du weißt nicht was du tun sollst.“ – „Immer schön Winken.“ Und gerade, als die Frage, wie solche Jungs wohl aufgewachsen sind, sich erneut in den Lichterketten verfranst, schnürt ein Satz einer Generation, die überall und nirgends (nicht) gebraucht wird, die Kehle zu. „Dieser Song ist für meinen Vater.“ Eben doch nicht alles Ponyhof.

AnnenMayKantereit (Foto: Torsten Volkmer bs! 2017)

„Zuhause ist immer nur du“.

AnnenMayKantereit, Alter ich weiß doch auch nicht, die scheinen jenen ein Zuhause zu geben, die haltlos sind im Eigentlichen, Unverbindlichen, Instagramten und diesem und jenem, aber alles nichts Konkretem. Letzte Klappe, Piano, Barfuß am Klavier, ein Meer aus Glühlampen und Schmachten, Beatles-Cover, Verbeugung, Ende.

„Also sitz ich um zu lieben lieber Barfuß am Klavier…
und träum dabei von Dir
ich träum dabei von dir
ich träum dabei von dir“

Also sitz‘ ich, um zu lieben und starre endlos auf’s Papier.
Es war ein schöner Abend. 21, 22, 23.
Du kannst jetzt noch nicht gehen.

Galerien (by Torsten Volkmer bs!):

Setlist Oliver St. Louis:

  1. Intro ‚Space Oddity‘ (David Bowie Cover)
  2. Recap
  3. Ain’t cool
  4. Dog in man
  5. Careless
  6. Them Changes (Thunder Cat Cover)
  7. In the now
AnnenMayKantereit (Foto: Torsten Volkmer bs! 2017)

Setlist AnnenMayKantereit: 

  1. Wohin du gehst
  2. Es geht mir gut
  3. Nicht Nichts
  4. Neues Zimmer
  5. Mir wär lieber, du weinst
  6. Gypsy
  7. James
  8. Das Krokodil
  9. 3. Stock
  10. Bitte bleib
  11. Du bist überall
  12. Sunny
  13. Pocahontas
  14. Länger bleiben
  15. Oft gefragt
    Encore
  16. Barfuß am Klavier
  17. Come Together (Beatles Cover)
  18. 21,22,23

Links:
www.annenmaykantereit.com
www.facebook.com/AnnenMayKantereit
www.olivierstlouis.net
www.facebook.com/ROADTOSAINTLOUIS
www.vday.org
www.onebillionrising.org

Die mobile Version verlassen