Wenn man sonst eher im Rock-/Pop-Bereich unterwegs ist, kann der Besuch eines Klassik-Konzerts schon eine Herausforderung sein. Aus welcher Oper ist das Stück? Wie heißt diese Arie? Wer hat das komponiert? Die Instrumentierung ist hier naturgemäß anders. Keine elektrisch verstärkten Gitarren, kein hämmerndes Schlagzeug und die Gesangstechnik ist sowieso schon mal ganz und gar anders. Auch Andrea Bocelli hat beim Konzert in der TUI-Arena kein Schlagzeug auf der Bühne stehen. Ist auch nicht nötig. Der 60-jährige Tenor fährt an diesem Abend mal richtig auf. 70 Mann starkes Sinfonieorchester plus 70 Personen-Chor plus Sopranistin plus Popsängerin plus Gitarren-Duett plus Tänzer. Das Ganze wird noch abgerundet mit einer Multimedia-Show auf großen LED-Leinwänden. Wuuuuusch. Ganz großes Klassik-Kino.
So ein großer Aufwand hat natürlich auch seinen Preis. Bei Eintrittspreisen bis zu 250 EUR hat sich wohl so mancher gedacht: „Da schieb ich mir doch lieber eine Bocelli-CD in den Player, mach es mir vor dem Ofen mit einem Glas Rotwein gemütlich und schön ist der Abend“. Ja, das kann mensch durchaus so machen. Aber dann verpasst man was. Nach 20 Jahren ist einer der weltbesten Tenöre mal wieder in Deutschland. Da muss Mensch einfach hingegen. Der Toskana-Tenor ist ein Ereignis. Dieser Meinung sind auch 4.400 Fans an diesem Abend in der (leider) nicht ausverkauften TUI-Arena in Hannover. Die Fans, die da sind erleben einen fulminanten, einen gefühlvollen, einen grandiosen Abend.
Andrea Bocelli ist ein Wandler zwischen den Welten. Er ist sowohl in der Klassik- als auch in der Popwelt zu Hause. Crossover halt. Wäre der Tenor eine Firma, so würde sie Andrea Bocelli CO KG heißen. Wobei CO für CrossOver und KG für Klassikgesellschaft stehen würde. Doch kann Bocelli beide Bereiche zu 100 Prozent bedienen? Oder ist das nichts Halbes, nichts Ganzes? Um es vorwegzunehmen: der Mann kann beides, und zwar exzellent.
Ma n’atu sole
Cchiu‘ bello, oi ne‘.
‚O sole mio
Sta ’nfronte a te!
‚O sole, ‚o sole mio
Sta ’nfronte a te!
Sta ’nfronte a te!
Das Konzert beginnt mit dem Gefangenenchor aus Nabucco. Besser kann man den Abend nicht eröffnen. Eine der schönsten Melodien der Klassikwelt, vorgetragen vom Pforzheimer Kammerorchester unter der Leitung von Marcello Rota und dem Chor. Das Publikum ist gleich richtig drin. Das nennt man dann wohl Stimmungsmache, natürlich im positiven Sinne. Dann wird der Maestro auf die Bühne geführt. Sehr schick im blauen Anzug stell er sich neben das Dirigentenpult. Los gehts mit Verdis „Va, pensiero“.
Den ersten Teil des Abends bestreitet Bocelli noch zurückhaltend. Seine erste Duettpartnerin ist die kubanische Sopranistin Maria Aleida. Ihr überlässt er einige Soli. Macht mensch die Augen zu wähnt man sich in einer großen Oper in Verona, Mailand oder New Yorks Metropolitan. Doch das hier ist die TUI-Arena in Hannover und mensch glaubt es kaum, der Sound ist überraschend gut für eine Mehrzweckhalle. Die Musikzusammenstellung ist ein Best of Klassik. Eine „Nuit d´hymenée“ aus der Gounod-Oper „Romeo et Juliet“ fehlt ebenso wenig wie Puccinis „La Donna é Mobile“ aus Rigoletto. Beethovens „Ich liebe dich“ und Richard Strauss´ „Zueignung“ spielt er nur vor deutschem Publikum. Gänsehautmomente gibt es bei „O Sole mio“. Dann werden auf den Leinwänden die großen Tenöre gezeigt, die dieses Lied schon schmetterten: Caruso, Pavarotti, Carreras. Dazu die schönsten Landschaften Italiens: Toskana, die Adria-Küste. Malerisch, zum Dahinschmelzen. Man hat Tränen in den Augen, und das nicht nur einmal.
Im zweiten Teil des Abends geht’s auch mal in den poppigen Bereich. Aber was heißt hier poppig. Das ist ganz hohes Unterhaltungsniveau. Zu diesem trägt auch die Bocellis Landsfrau Ilaria Della Bidia bei. Ein sehr gefühlvolles „Over the Rainbow“ trifft hier auf Elvis´ „Can´t help falling in Love“ im Duett. Und immer wieder runden Bilder auf den Leinwänden das Gesamterlebnis Bocelli ab. Städte, Landschaften oder Szenen aus Opern in den der noch junge Bocelli mitgewirkt hat. Stücke aus dem neuen Album, unter anderem mit Ed Sheeran und Dua Lipa, kommen etwas zu kurz. Aber „Sí“ darf natürlich nicht fehlen. Auf keinem Bocelli-Konzert fehlt natürlich der Henry-Maske-Abschiedssong „Time To Say Goodbye“. Tosender Applaus und Standing Ovations in der Arena. Und dann ist da dieses Pärchen, das die Seitentribüne verlässt und in der dritten Reihe noch zwei Plätzchen findet. Näher dran am Maestro. Zum Finale von „Nessun Dorma“ halten sie sich stehend an den Händen, reißen die Arme hoch. Ein Kuss und eine innige Umarmung. Kein Bild kann dieses Konzert besser darstellen. Das war eine einzigartige innige Umarmung. Gracie!, Grazie Tanto!, Andrea Bocelli.
Galerien (by Michael Lange bs! 2019):
Links:
www.andreabocelli.com