Review: Das ist Hamburg, Baby! – 15 Jahre Grand Hotel van Cleef (18.08.2017, Hamburg)

Das Leben als Rockstar ist schon hart. Nach einer durchgefeierten Nacht auf St. Pauli gerade erst im Bett gelandet, wird man schon wieder auf die Bühne gezerrt. Zum Anziehen reicht die Zeit nicht mehr. Fix mit etwas Spucke die Haare richten, die Designertasse aus dem schwedischen Möbelhaus mit Kaffee oder abgestandenem Bier befüllen, die nahegelegensten Hauspuschen greifen und dann ab dafür. Nur so oder so ähnlich lässt sich das Bühnenoutfit von Fortuna Ehrenfeld erklären. Immerhin seine beiden BandkollegInnen haben den Weg zum Kleiderschrank rechtzeitig gefunden, um sich standesgemäß herauszuputzen. Schließlich feiert Hamburg heute den 15. Geburtstag seiner musikalischen Sprösslinge des Grand Hotel van Cleef mit etwa 10.000 selbstgeladenen Gästen. Statt Kuchen gibt’s jedoch ordentlich was auf die Ohren.

Fortuna Ehrenfeld (Foto: Thea Drexhage bs! 2017)

Den Anfang macht der besagte unausgeschlafene Herr im Pyjama. Mit verschränkten Armen baut er sich vor seinem Mikrofonständer auf und beginnt damit, die Hamburger über analoge Mädchen, Hundeherzen und Matrosen aufzuklären. Minimalinstrumental und ganz gemächlich versteht sich.

Was ist bloß aus den Punks geworden? Alle machen Webdesign?

philosophiert er in die Runde. Eine Antwort gibt es nicht. War wohl nicht der einzige auf St. Pauli gestern Nacht. Das Publikum watet noch etwas niedergeschlagen vom Hamburger Schmuddelwedder über den Platz und lässt sich dabei nett von Fortuna Ehrenfeld beschallen, bevor dieser sich mit „Tschüss Frankfurt, ihr Ficker“ verabschiedet. Der gemütliche Schlafanzug des Herren auf der Bühne weckt sicherlich Couchweh, aber so einen Geburtstag darf mensch natürlich nicht verpassen. Grand Hotel van Cleef ist schließlich nicht nur irgendein Indielabel, sondern DAS Indielabel Hamburgs, welches uns Kettcar, Tomte und Thees Uhlmann, Olli Schulz und den Hund Marie, Young Rebel Set, Adam Angst und so viele weitere tolle Künstler geschenkt hat.

Gisbert zu Knyphausen (Foto: Thea Drexhage bs! 2017)

Ebenfalls spendiert GHvC den im Regen wartenden Menschen eine weitere Runde Musik! Gisbert zu Knyphausen kommt auf die Bühne. Graues Shirt, graue Jeans … ist jetzt auch nicht wirklich feierlich, aber wer braucht schon schöne Kleider, wenn er schöne Lieder hat? Und dazu noch den norwegischen Jazzmusiker Karl Ivar Refseth am Vibrafon! Gisbert, immer irgendwie traurig, aber irgendwie auch nicht, singt sich und das Publikum durch den Nieselregen, während Refseth mit seinem Instrument irgendwelche magischen Dinge anstellt. Ganz nach dem Motto „Ach fick dich ins Knie, Melancholie!“ geht es im mittlerweile strömenden Regen mit einer Überraschung und dem eigentlichen Headlinder des Tages weiter:

Der Seemanns-Chor Hannover platziert sich auf der Bühne.  Statt Seemansgarn gibt’s jedoch den ein oder anderen FC. ST. Pauli Gassenhauer.

Seemannschor Hannover (Foto: Thea Drexhage bs! 2017)

Wir sind Zeckeeeeen
Assoziale Zeckeeeeen
Wir schlafen unter BrüÜüüücken
Oder in der Bahnhofsmission

Schallt es aus den Kehlen der, adrett in weiß gekleideten, Chormitglieder…Je oller desto doller. Als würde dies das Publikum nicht bereits genug verzücken, schmettert der Seemannschor noch die Coverversionen von Kettcars „Landungsbrücken raus“ und Thees Uhlmanns „Zum Laichen und Sterben ziehn die Lachse den Fluss hinauf“. Vor lauter Begeisterung wird der Regen doch glatt zur Nebensache, zumindest bis zur nächsten Umbaupause.

Langsam wird es ungemütlich am Elbufer. Wind und Regen sind Hamburg zwar keine Seltenheit, aber um es mit den Worten des weisen Marcus Wiebusch zu sagen: „Hamburg ist ja ´ne geile Stadt, aber das Wetter ist ´ne scheiß Zumutung!“. Recht hat er.

Kettcar (Foto: Thea Drexhage bs! 2017)

Mit Marcus Wiebusch und Reimer Bustorff von Kettcar betreten an diesem Abend 2/3 von van Cleefs Gründungsmitgliedern die Bühne und eröffnen ihr Set mit:

Deiche brechen richtig, oder eben nicht.

Eine Zeile, die man sich an diesem Abend hätte klemmen können, denn im gleichen Moment schwappt der Wasserstau, der sich im Laufe des Tages auf dem Bühnendach angesammelt hat, wasserfallartig in den Bühnengraben, um den Fotografen, die ja bekanntlich eh immer sparen müssen, ne ordentliche Gratisdusche zu bescheren. Warmduscher ist zum Glück niemand, also geht alles weiter wie gehabt. Als Kettcar mit „Rettung“ ihren selbstbetitelten Emo-Block beginnen, wird schnell wieder klar, warum diese Band so erfolgreich ist, wie sie es eben ist. Die Texte. Wer schafft es schon, das Wort „Sabberfäden“ in eines der schönsten deutschsprachigen Liebeslieder einzubauen? Textgewaltig kommt auch Kettcars aktuelle Veröffentlichung „Sommer´89 (Er schnitt Löcher in den Zaun) daher, bevor der Auftritt mit „Mein Skateboard kriegt mein Zahnarzt“ nach einer amtlichen Spielzeit von 1,5 Stunden irgendwie trotzdem viel zu früh sein Ende findet.

Aber es kommt ja noch was. Eine Umbaupause. Und mehr Regen. So viel mehr Regen. Der Platz wird leer, die Menschen verkriechen sich in den offenen Hallen des Hamburger Großmarkts, bis der nächste Künstler an der Reihe ist.

Thees Uhlmann (Foto: Thea Drexhage bs! 2017)

Thees Uhlmann und Band, ihres Zeichens Headliner, beginnen, als der Abend zunehmend dunkler wird. Thees Uhlmann, das dritte van Cleefsche Gründungsmitglied, ist vielleicht nicht der größte Sänger, und schon gar nicht der größte Tänzer, aber Thees Uhlmann ist Thees Uhlmann. Thees Uhlmann ist Tomte. Thees Uhlmann wirkt in seiner Jeansjacke wie der coole Nachbar, mit dem man gerne Mal ein Bierchen trinkt und noch dazu hat er all diese tollen Lieder deiner Jugend geschrieben, über Mofas und England und Norddeutschland, Zugvögel und Lachse und er vermag es, all diese einfachen Dinge in Texte zu verpacken, ohne diese banal klingen zu lassen. Mit seiner grandiosen Band lockt Thees all die Leute, die sich vorm Regen verkrochen haben, wieder direkt vor die Bühne. Der Regen wird einfach vergessen. Jede Textzeile sitzt. Vor allem bei den alten Tomte Klassikern „Ich sang die ganze Zeit von dir“, „Schönheit der Chance“, „Das hier ist Fußball“ (zusammen mit dem Seemannschor) und „Schreit den Namen meiner Mutter“ ist das Publikum nicht mehr zu halten und bestimmt bis ins „gute Leute Viertel an der Elbchaussee, wo das Wetter schöner ist“ (so Wiebusch) zu hören.

Für diese Momente nehm‘ ich alles in Kauf
Die Nacht war kurz, ich stehe früh auf.

Und das war es dann mit der Geburtstagsparty. Durchnässt aber glücklich wird es Zeit, dem Couchweh zu fröhnen und sich in einen trockenen Pyjama zu kuscheln.

Galerien (by Thea Drexhage bs! 2017):

Links:
www.ghvc.de
www.kettcar.net
www.theesuhlmann.de
www.fortunaehrenfeld.wordpress.com
www.gisberzuknyphausen.de

Thea Drexhage
Thea Drexhagehttps://www.be-subjective.de
Thea Drexhage hat Salma Hayek einiges voraus! 10 mm. Wie die meisten Frauen der Redaktion, Duffy, Beth Ditto, Joan Rivers oder Angus Young kann sie die MusikerInnen aus dem Bühnengraben also völlig problemlos sehen, wenn jemand ihren Hocker trägt, wird aber - das hat sie mit Salma dann doch wieder gemein - dennoch viel zu oft auf Ihre Körpergröße, ihre Mähne und ihre leicht misanthropischen Anflüge reduziert. Damit sie also nicht im nächstbesten Titty Twister von Sonnenunter- bis Sonnenaufgang Menschenmengen und Bläser mätzelt, halten wir “Aggro-Thea”, die zuvor ganze Landstriche in Mecklenburg Vorpommern ausgerottet hat, halbtags im spießbürgerlichen Oldenburger Exil an der langen Leine. Seither legt sich die scheißpünktliche existentialistische Besserwisserin analog mit Sartre, Camus & Kodak an und ja, auch wir müssen neidlos zugestehen, dass der Instagram-Account ihrer beiden Katzen “Salma” und “Hayek” mehr Follower pro Tag hat, als unser webzine im ganzen Jahr.

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