„Reise, Reise, Seemann Reise, sieh das Ufer nicht mehr fern“. Unglaublich wie schnell die Zeit verfliegt. Erst vor wenigen Tagen angereist, segelte die alljährliche Fahrt über das schwarze Meer am Pfingstmontag bereits wieder erbarmungslos ihrem Ende entgegen. Auch dieses Mal komme ich nicht umhin die merkwürdige Stimmung zu umschreiben, welche am letzten WGT Tag gerne mal aufzukommen pflegt. Da hockt man nun, wahlweise in einer Pension oder seinem Zelt mit der Gewissheit: „morgen früh ist alles vorbei“. Die Nachbarn müssen arbeiten und sind schon in der Nacht abgedüst andere packen gerade ihre sieben Sachen, während Geist und Körper ein Hauch von Wehmut umfängt. Wehmut darüber dass die harte Realität einen schon bald wieder haben wird, Wehmut aber auch von den müden Knochen, die nach Ruhe rufen und erst recht keine Lust haben „deinen blöden Krempel nachher noch zum Auto zu schleppen“. Nach einem starken Kaffee rafft man sich dann doch irgendwie auf und versucht das beste daraus zu machen. Schlafen kann man noch wenn man tot ist. 😉
Irgendwann so gegen zehneinhalb – mehr gekullert als aus den Federn gefallen – setzte ich mich nach der Morgentoilette erstmal anden Rechner um die gestrige Fotobeute zu sichten. Ein Blick in die Ordner von Killing Joke und Fields Of The Nephilim offerierte nebliges. Viel Arbeit für wenig Mensch. Also entschloss ich mich den Rechenknecht kurzerhand wieder zuzuklappen und meine Tasche für die letzte Runde zu packen. Außerdem stand da ja noch ein unerfülltes Bedürfnis vom Sonnabend im Raum, das sich nun mit knurrendem Magen zurück meldete.
„Von Pommes kriegt man Pickel , ist mir ganz egal“, dachte ich mir und verband den Weg zur Alten Messe 15 mit einem Abstecher zum Burger-Tempel am Hauptbahnhof. Es ist auch immer wieder erstaunlich wie eine warme Mahlzeit die Lebensgeister zurück bringt. Frisch gestärkt pflanzte ich mich in die nächste Droschke und ließ mich von dem Vierrad vor die Halle 15 kutschieren. Bei Tageslicht betrachtet hatte das Alte Messegelände etwas von einer Filmkulisse. Vorbei an den verwaisten Ruinen den alten Messehallen kam ein Hauch von Endzeitstimmung auf. Bröckelnder Beton, verformte Zäune, geborstene Fensterscheiben, wahllos herum liegender Schutt und Gerümpel. Jepp stellenweise sah es hier aus wie nach einem Bombenangriff. Eigentlich genau das richtige Ambiente für den Electro/Industrial Soundtrack, welchen sich die Programmgestalter heute für die Halle 15 ausgedacht hatten.
Flugs huschte ich also durch den Eingang in die Halle und hielt für einen Moment wie angewurzelt inne. „Irgendwas stimmt hier nicht an dem Bild“ sprach die innere Stimme zu mir. „Bist Du nicht eben in die Halle gegangen? Wieso ist es hier Taghell?“. Bei meinem Besuch am Samstag Abend hatte ich mich keine weiteren Gedanken über die teilweise verglaste Dachkonstruktion gemacht. Geschweige denn sie als solche wahrgenommen. Mit dem Ergebnis, dass nun, am späten Nachmittag die lichtdurchflutete Halle nicht den Hauch einer Atmosphäre aufkommen ließ, es sei denn man nannte von Haus aus irgend einen bizarren Fetisch für Konzerte in Einkaufsgalerien sein Eigen. Spätestens jetzt war der Moment erreicht wo ich mir endgültig den Kohlrabizirkus zurück wünschte und wie sich in den folgenden Minuten offenbarte sollte ich nicht der einzige bleiben, der heuer lieber woanders gastiert hätte!
MIND.IN.A.BOX
Auch die österreichischen Elektronik-Popper Mind.In.A.Box machten keinen sonderlich glücklichen Eindruck als sie nach einem knapp 40minütigen Technik Debakel wie geprügelte Hunde von der Bühne schlichen. Nein, ihr Auftritt war wahrlich kein Ohrenschmaus gewesen. Eher erinnerte die Pleiten, Pech und Pannenschau an ein verschollene Episode von „Pumuckel und Meister Eder“.
Irgendwo in der Technik hielt sich der kleine Kobold versteckt und machte sich unentwegt einen Spaß daraus den „Eder“ Stefan Poiss mit kleinen und großen Streichen aus dem Konzept zu bringen. Mal davon abgesehen, dass die für das Mind.In.A.Box-Konzept unerlässlichen Videoprojektionen bei diesen Lichtverhältnissen kaum zu erkennen waren reihten sich Mikrofonie und Monitoraussetzer wie ein roter Faden durch das Konzert. Für zusätzliche Erheiterung sorgte zudem Poiss´ Rechner, welcher sich in unregelmäßigen Abständen verabschiedete und statt elektronischer Samples nur noch entfernt an einen Auto-Scooter erinnernde Huptöne von sich gab. Es war zwar irgendwie drollig die anfangs erschrockenen, später fatalistisch grinsenden Gesichter der Musiker zu beobachten, während „das Mööööööööööööp“ die Halle beschallte. Das Gestrüpp aus technischen Problemen wurde jedoch irgendwann so dicht, dass es Sänger Stefan für einen Moment völlig aus dem Konzept brachte und er seinen Text vergaß. Dies war dann auch der Punkt wo die Fassungslosigkeit einem Gefühl von Mitleid wich. Was immer da zwischen Mischpult und Bühne vor sich ging, es hatte nichts mehr mit einem regulären Konzert zu tun.
Dass der Auftritt von Mind.In.A.Box dennoch über die volle Distanz ging hatten sie allein ihrem musikalischen Bühnenkonzept zu verdanken. Für gewöhnlich angereichert durch Live-Gitarre (Adam Wehsely-Swiczinsky), Bass (Roman Stift) und Drums (Gerhard Höffler) retteten sich die Österreicher über die Zeit, indem sie ihren Elektro-Pop konsequent zur Rockshow umfunktionierten. Das klappte unter den gegeben Umständen sogar recht gut, konnte das Kind aber nicht mehr aus dem Brunnen zerren. Zumal das Elektropublikum sich ob der fast schon retro-progressiven Rockklängen irritiert die Ohren rieb. Immerhin hatte das Gespann mit vereinten Kräften den Totalabsturz abwenden können.
Auch wenn es nicht ihre eigene Schuld war, stolz sein wollten die Österreicher auf den missratenen Auftritt nicht und verabschiedeten sich mit einer Entschuldigung und der Gewissheit, das es die nächsten Band sicher besser machen würden. So sympathisch diese Geste anmutete, sollten sie aber auch damit kein Recht behalten. In der Kategorie „unterkühltes Konzertelebnis“ gab es noch immer einen Pokal zu holen.
ABSURD MINDS
Was ist dran an der großen Live-Schwäche der Absurd Minds? Diese Frage beschäftigt mich nun schon seit knapp einem Jahrzehnt. Ähnlich wie viele andere habe ich das Dresdner Elektroprojekt seinerzeit über die Affinität zu Project Pitchfork kennen und schätzen gelernt. Nicht von ungefähr haftete Mastermind Stefan Großmann lange Zeit der Nimbus eines Peter Spilles Imitators an, da seine Stimmfarbe und Phrasierung dem Original zuweilen doch sehr nahe kommt.
Aus verschiedenen Gründen hatte ich es bisher nie geschafft mir Absurd Minds live anzusehen. Dafür kursierten überwiegend in den einschlägigen Foren immer wieder Gerüchte über magere Live-Auftritte. Umso spannender die Gelegenheit mir nun endlich selbst ein Urteil bilden zu können. Und da kamen sie nun zum Intro auf die Bühne geklettert, vier Mann hoch und vergleichsweise gewöhnlich gekleidet. Als Einstieg wählten Stefan Großmann, Tilo Ladwig (Keys), Timo Fischer (E-Drums) und Live-Key Unterstützung Nick (Legacy Of Music) mit „Eternal Witness“ einen Titel des aktuellen Album Serve Or Suffer. Abgesehen davon, dass das Plattencover dieses Albums wohl als eines der hässlichsten in die Annalen der Electrogeschichte eingehen dürfte, kein übler Auftakt. Und weil es so schön war blieben die Sachsen mit „Countdown“ und „Interconnectedness“ gleich bei der aktuellen Scheibe.
Nach den ersten Drei Nummern erahnte ich allerdings bereits woher die dürftigen Live-Kritiken rührten und wurde im weiteren Verlauf bestätigt. Man durfte eben nicht den Fehler begehen und Absurd Minds mit Project Pitchfork verwechseln. Gegen die Extraportion Wahnsinn eines Peter Spilles wirkte der unauffällig agierende Herr Großmann in der Tat wie eine biedere Ostkopie bei der sich der Vergleich Trabi gegen Golf GTI geradezu aufdrängen würde. Jepp bei Absurd Minds geht alles noch etwas konventioneller zu aber nicht unbedingt schlecht. Allein es fehlt die Abwechslung. So solide wie Großmann die Songs auch verkaufte, spätestens nach einer halben Stunde hatte sich der Bogen erschöpft und die Songs wurden nach dem immer gleichen Schema abgespult. So reihten sich Hits wie „Deception“, „Serve Or Suffer“, „Hurt“ und „Brainwash“ aneinander. Einigen eingefleischten Fans gefiel das natürlich, ein Großteil des Publikums ließ sich jedoch erst beim abschließenden Klassiker „Herzlos“ zu größeren Kraftanstrengungen bewegen. Wobei das Phlegma gleichfalls der fortgeschrittenen Veranstaltungsdauer geschuldet war.
In der Summe der einzelnen Teile wären die Programmchefs des WGT sichtlich besser damit beraten gewesen Absurd Minds zu einem früheren Zeitpunkt des Treffens zu platzieren. Am heutigen Montag reichte die Durchschlagskraft der Dresdner auf Dauer nicht aus um in der Alten Messehalle größeres zu bewegen. Dazu kam noch die fürchterliche Tageslichtatmosphäre, die das Gespann locker nochmal 10 Wertungspunkte auf der imaginären Feelgood-Skala kosteten. Fazit: solider Durchschnitt!
PLASTIC NOISE EXPERIENCE
All das war aber noch gar nichts gegen das unterirdische Debakel welches mir und viel zu vielen anderen hernach anheim getragen wurde: Plastic Noise Experience. Konzerte wie das nachfolgend gebotene stehen meiner Meinung nach exemplarisch für die goldene Prinzip eines Rudy Ratzingers, der sich freiwillig niemals live auf eine Bühne stellen würde. Spätestens wenn sich Asbach-EBM mit mangelnder Bühnenpraxis vermengt, Tageslicht die Stimmung trübt und das Publikum sich bewegungsunfähig dem gebotenen Schauerspiel ausgeliefert sieht ist der Punkt erreicht wo man entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen schlägt und sich fragt: musste das wirklich sein?!
Die Figur die Frontmann Claus Kruse abzugeben versuchte beschränkte sich auf gewollt wirre Blicke der Marke wildgewordener Waldschrat und zuckendes Auskeilen mit dem Ellenbogen, das wohl so etwas wie Stimmung erzeugen sollte. Zudem hatte ich eher dass Gefühl dass sich da einer selbst in Stimmung rucken musste, als dass das Publikum damit gemeint war. Komisch wurden die Schwinger aber erst, weil sich absolut null zu dem fluffigen Zischen aus den Boxen passte und meist leicht verzögert hinter her wischten. Hatte da möglicherweise einer zu tief ins Glas geguckt?!
Im Publikum war es währenddessen mucksmäuschenstill! Paradoxe Stille geradezu. Eine unwirkliche Atmosphäre die dadurch noch gespenstischer wurde als zwischen zwei Stücken aus der Schweigenden Mehrheit eine Stimme zu rufen begann: „Ehh Claus! Claus! Du Claus, ich hab noch was für Dich! Claus! Düsseldorf, Claus! 91! Weisste noch Claus! Ich hab da noch was! Das geb ich Dir nachher“. Der Gerufene überspielte den Moment mit abwesendem Gesichtsausdruck und vornehmem Schweigen. Ein verwirrtes Grinsen huschte über sein Wangen, dann musste es weitergehen. Dieses mal mit Megaphon. Auch das wollte nicht so recht zünden. Vor der Bühne verharrte das ausgemergelte Publikum weiter in stiller Andacht, die sich ab und an mit verhaltenem Applaus abwechselte.
Fraglos waren Hopfen und Malz hier hoffnungslos verloren. Während ich noch darüber spekulierte ob der seit den späten 80ern aktive Electro-Opa auf der Bühne mächtig einen getankt oder einfach nur seinen Zenith überschritten hatte erinnerte ich mich an ein ganz ähnliches Erlebnis. Scheinbar ist der WGT Montag prädestiniert für solche Ausfälle, hatte sich vor zwei Jahren an der Parkbühne doch auch Jörg Bartscher-Kleudgen, Sänger der Gothic Rock Formation The House Of Usher nach dem Genuss einer Flasche Rotwein, reichlich „in Stimmung“, in seinem Mikrofonkabel verheddert und damit eine nicht minder unfreiwillige Komik produziert. An Plastic Noise Experience biss die Maus allerdings keinen Faden ab. Warum auch immer, das war Käse in Reinkultur und kurz vor Feierabend der mit Abstand schwächste Auftritt der mir an diesem langen Wochenende untergekommen war. Schlimm sowas!
AUF DER FLUCHT
Der Fluchtreflex ließ folglich nicht lange auf sich warten. Also nix wie eingestiegen in das nächste Vierrad und so weit weg von dem Gammel wie nur irgend möglich. Das Agra Gelände schien mir sicher genug, noch dazu weil dort am letzten Tag traditionell noch Folk- und Metallastiges geboten wurde. Anlässlich des großen Jubiläums konnte ich mich zwar des Eindrucks nicht erwehren dass der Agra-Montag schonmal prunkvoller besetzt war aber wenn man es genau nimmt trägt das Programm auch nicht mehr den Untertitel „Feuertanz“. Bands wie Subway To Sally, In Extremo, Tanzwut oder Letzte Instanz wachsen eben nicht auf Bäumen. Daher durften es heute unter anderem Coppelius (schon vorbei), Moonsorrow (fingen gerade an), die Mediaeval Baebes und Eluveitie richten. Ein ganz schöner Ruck ins heidnische Lager, wenn man es mal mit den früheren Jahrgängen vergleicht. Vielleicht zu weit? Da dachte ich in bester Rach-Manier „das schaust Du dir gleich mal an!“.
EIN HAUCH VON MOONSORROW
Mit der Gehirnfräse (also Known as Slushy-Ice) in der Hand flanierte ich ein letztes mal die rund 500 Meter lange Agra Meile hinab, um in der Halle nach dem (nicht den!!!) Rechten zu sehen. Die finnischen Epic Pagan Metaller waren bereits voll in ihrem Element und schrubbten matteschwingend ihre berühmt-berüchtigten Riffwände in die Prärie. Dazu spielten Blut, Kameradschaft und Heldenmut in den Werken der Heidenrocker wie erwartet eine prägende Rolle, was ihnen in der Vergangenheit auch schon einmal zu der zweifelhaften Ehre verhalf im Fadenkreuz der Braunjackenpolizei zu landen. Welch ein Unfug! Da Moonsorrow schon mitten in ihrem Set waren riskierte ich nur einen kurzen Blick. Bei den oft überlangen, bis zu 20 minütigen Kompositionen ist es erforderlich von Beginn an dabei zu sein, um die Stimmung der Stücke in sich aufzusaugen. Letzteres war aus der Distanz nur schwer möglich, zumal der Sound sich Agra-typisch im weiten rund sehr ins Blecherne streute. So blieb mir lediglich der Eindruck, dass sich die Sparte des Pagan Metal selbst auf dem geschmacklich breit gefächerten WGT wesentlich schwerer tut als Electroacts. Gut gefüllt war die Halle nämlich nicht, während (wie inzwischen hinlänglich bekannt sein dürfte) die E-Helden Nitzer Ebb und Hocico später eine Einlassschlange von biblischen Ausmaßen an der wegen Überfüllung geschlossenen Halle 15 verursachten. Vielleicht sollten die WGT Organisatoren für die Zukunft doch mal darüber nachdenken den alten Zopf des Agra Mittelaltertages abzuschneiden und ihn in einer kleineren Location wieder anzuknüpfen. Den Rockern wäre es womöglich egal und die elektronische Übermacht müsste sich nicht mehr vor verschlossenen Türen die Nasen platt drücken.
Den Rest von Moonsorrow erlebte ich nicht mehr. Stattdessen fand sich im Außenbereich ein nettes Kollegengespräch das mir mit seinem resümierenden Charakter einen heftigen Endzeitblues verpasste. Die Vorstellung dass die nächsten zwei Konzerten die letzten für dieses WGT sein würden hatte zweifelsohne einen sehr melancholischen Beigeschmack. 5 Tage andere Welt gehen auch an dem härtesten Jünger nicht spurlos vorbei, noch dazu wenn der Akku auf Reserve läuft und man darüber sinniert, dass sich schon morgen früh all die schillernden Gestalten um einen herum in Luft auflösen werden. Hachjaaa…..
MEDIAEVAL BAEBES
Zur Zerstreuung hatten die WGT Macher in der Halle nun die Mediaeval Baebes (komischer Name) installiert. „Kann ein keltisch inspirierter Damenchor um diese Uhrzeit die richtige Wahl sein“ hatte ich mich schon bei Veröffentlichung des Programms kopfkratzend gefragt. Nun da der Moment der Wahrheit gekommen war schien es nicht unklug vor dem großen Finale einen Gang herunter zu schalten. Rein musikalisch betrachtet gaben sich die englischen Lilofeen gefällig und down to nature. Gesanglich war das auch Top, Anmut und Grazie stimmten, ein paar hübsche Gesichter waren auch dabei. So verzauberte das Ensemble um Gründerin Katharine Blake mit seinen mittelalterlichen Klängen, die von dem anwesenden Publikum wohlwollend aufgenommen wurden. Ein Tamburin hier, eine Violine dort, da drüben mal ein Flöteneinsatz, das klang alles ganz schön und virtuos vorgetragen. Doch kein Paradies ohne verbotene Frucht, kein Licht ohne Schatten.
Die einstudierte, schlichte Choreographie der Damen wirkte symptomatisch dafür dass sich das Geschehen in einem sehr eng geschnürten Waldfeen-Korsett widerfand, dass dauerhaft kaum noch gegen die Übermacht aus morschen Knochen und brennenden Fußsohlen ankam. Auch die „Mittelalterschnitten“ wären um diese Uhrzeit in einer bestuhlten Kulisse weitaus besser aufgehoben gewesen. Unter den gegebenen Voraussetzungen musste man schon echter Fan gewesen sein, wollte man nicht gähnender Weise nach einem Platz für ein Nickerchen spähen. Wie schon des öfteren an diesem Wochenende hatte das einen unmittelbaren Publikumsschwund zu Folge, bis zum Schluss nur noch der mittlere Hallenbereich vor der Bühne gefüllt war. Hervorragende Musiker unpassende Spielposition.
THE FINAL COUNTDOWN
Und wieder stieg in mir das Bild vom dahin scheidenden Patienten auf, bereit für das letzte Aufbäumen vor dem Exitus. Dieses Aufbäumen kam heute aus der Schweiz und hörte auf den klangvollen Namen „Eluveitie“ (Die Helvetier). Ein wenig ausserhalb ihrer natürlichen Umgebung wagten sich die Pagan Folk Metaller nach dem erfolgreichen Auftritt beim M´era Luna erneut an ein Gothic Event.
Zu diesem Zeitpunkt füllte sich die Agra doch noch einmal ansehnlich. Die Top 20 Chartplatzierung des aktuellen Albums Everything Remains (As It Never Was) kam offenkundig nicht von ungefähr. Mit Gebrüll quittierte die Meute das Erscheinen des Kapellmeisters und seines Gefolges. Wild und Ungestüm gaben die Eidgenossen den Pferdchen die Sporen – Fronter Christian „Chrigel“ Glanzmann vorneweg mit fiesen Shouts, zu schneidigen Riffs aus der Gitarrenfraktion. GOIL!
Rasant, ja geradezu hektisch wuselte der Emmi-Achter umher, Mähnen flogen, Schädel kreisten, eine Drehleier erklang und für den Moment war die Müdigkeit wie weggeblasen. Dennoch kam die Truppe nicht umhin sich als Außenseiter zu outen. Offenbar war ihnen die Spielposition selbst nicht ganz geheuer gewesen, wie Glanzmann mit Verweis auf die eigene Aufregung gestand. Satansbraten liegen aber bekanntlich schwer im Magen, sodass sich die heidnischen Wölfe im Schafspelz mit der Herde zum einträchtigen Budenzauber unter dem Blechdach vereinten.
In Anbetracht der Umstände war das vermutlich das beste was noch in der fast leeren Flasche drin war. Die Schweizer sahen sich zwar selbst in der Rolle des Underdogs, ich für meinen Teil hätte aber gerne mal erleben wollen was hier passiert wäre, hätte man Eluveitie schon am Freitag auf Leipzig losgelassen. Das WGT ist kein Wacken, trotzdem hätten sie womöglich gemeinsam mit ihren Fans die Bude hier auseinander genommen.
Einen gefälligen Abschluss boten Eluveitie trotzdem, selbst wenn wir das mit dem gallischen Mitsingspiel besser nochmal üben und das epische Panoramakino in der Hektik des Gewusels hier und da ein wenig auf der Strecke blieb. Im Duell „Duracell Bunnies“ gegen „ausgelutschte Zink-Kohle Batterien“ zogen letztere nämlich eindeutig den Kürzeren.
…UND SCHLUSS
„Das Licht ist aus wir gehen nach Haus, rabimmel rabammel rabumm!“ – wer kennt nicht jenes alte Kinderlied. Nun war der Moment gekommen es zu singen oder wenigstens leise im Kopf zu summen. So schön es auch immer ist, Leipzig und all das schwarzbunte Treiben drumherum, so birgt auch der Moment des Abschieds ein klein wenig Seligkeit in sich. Und seien es nur die qualmenden Füße deren erleichterte Seufzer einen bis ins Nachtlager verfolgen.
Während in der Halle der Kehraus vor sich ging herrschte im Außenbereich noch etwas, dass ich jetzt mal als Restetrinken bezeichnen möchte. Zudem hielt das Treffen noch ein bisschen Disco für die hartgesottensten unter den Nachtschwärmern parat. Unterdessen hatte die Händlerhalle längst geschlossen und auch auf dem Strip lichteten sich zusehends die Reihen. Höchste Zeit den Weg in die Pension anzutreten und eine Mütze voll Schlaf zu tanken, bevor am Morgen der Alltag wieder Einzug halten würde! Nacht umfing mich!
THE DAY AFTER – EIN TAG IM ARSCH
Als das Licht am Ende des dunklen Tunnels heller wurde, schälten sich Farben und Formen aus dem diffusen Nebel. Eine Zimmerdecke, vom Nebentisch schallte Musik. Hatte ich etwa vergessen das Radio auszuschalten? Ach nein ich hatte ja gar kein Radio eingepackt. Wo war ich, wer war ich, und vor allem WAS? Hätte mich in diesem Zustand jemand Drittes gesehen. Der hätte es schwer gehabt mich zu definieren. Ein Blick, ein Wecker – Aua, Kopf! Ein zweiter Blick, noch immer der selbe Wecker – Scheiße ist das früh, viel zu früh! Und was zur Hölle war das für ein Horrortrip?
Der Weg zur Erkenntnis wieder in der Realität angekommen zu sein offenbarte sich an diesem Morgen länger und heftiger als gewöhnlich. War etwa alles nur ein Traum gewesen? Nein, dafür hatte er sich zu real angefühlt. Dafür waren auch die Signale aus der Tiefgarage meines Körpers zu schmerzhaft und eindeutig. Zweifelsfrei, dieses Wochenende hat Spuren hinterlassen. Spuren an Kleidung, Geldbeutel, Geist, Körper und Seele. In der Summe seiner Einzelteile war das Jubiläums Wave Gotik Treffen eines, dass sich musikalisch mit allerlei Zier schmückte. Was den Ablauf betraf war es wiederum ein typisches WGT mit all seinen Stärken und Macken.
WAS WAR BLEIBT – WAS KOMMT IST UNGEWISS!
Zu den Stärken zählte einmal mehr das unverwechselbare Flair – die Atmosphäre einer ganzen Stadt in Schwarz. Auch das bunte Treiben auf dem Strip mit dem Sehen und Gesehen werden gesellte sich zu den üblichen Eigenheiten des Events. Der epische Zeitrahmen, im Zusammenhang mit dem vielfach verschachtelten Programm machte das WGT abermals zum gigantischen Rollenspiel, in dem jeder Besucher sich selbst spielte und seines eigenen Glückes Schmied war. Der Vielfalt waren kaum Grenzen gesetzt. Jedem sein persönliches Highlight, jedem sein persönlicher Griff ins Klo (oder auch nicht, wenn man Glück hatte). Positiv hervorheben möchte ich an dieser Stelle noch einmal die Auftritte von Love Like Blood, Covenant und Girls Under Glass, Empyrium sowie das Heidnische Dorf mit all seinen Attraktionen. Auch beim kulinarischen Angebot, dem moderaten Preisniveau und den obercoolen WGT Pfandbechern Stand das WGT Konto im Soll. Da ich im vergangenen Jahr nicht in Leipzig war gibt’s selbstverständlich für den Service der WGT Tram Linie 31 den Bonuspunkt nachgereicht.
Zu den von mir erlebten musikalischen Ausfällen zählten neben Plastic Noise Experience und 18 Summers leider auch Mind.In.A.Box, die ich mal exemplarisch für so manches Technikproblem anführen möchte, welches sich im Laufe des Wochenendes eingeschlichen hatte. Den Auftritt der Österreicher hatte es echt böse erwischt und fast bis zur Unkenntlichkeit zerlegt. Kann passieren, soll es aber nicht! Vor allem wenn selbst Größen wie Tiamat oder Front 242 (ja auch die) derart in die Knie gerungen werden, dass eine mehrminütige Konzertunterbrechung unumgänglich ist.
Zu den organisatorischen Flops muss man leider die Alte Messehalle 15 zählen. Ok, der Kohlrabizirkus stand Aufgrund der Körperwelten Ausstellung nicht zu Verfügung. Trotzdem lässt sich nicht beschönigen, dass die Halle 15 für einige der gebuchten Acts zu klein war, was zu teils kollossalen Warteschlangen und Einlassstopps führte (siehe Video eines Besuchers hier: http://www.youtube.com/watch?v=-P6gLe8eqYE ). Auch die Atmosphäre der Halle am Tage ließ sich nur als grauenvoll bezeichnen. Tageslicht bei einer Indoor Location – ein totales No-Go in meinen Augen! Vor allem für Electroacts, denen eine stimmungsvolle Lightshow immer hilfreich ist. Vielleicht hätte man besser daran getan sich stattdessen wieder in Richtung des guten alten Haus Auensee zu orientieren. Unterdessen ging es auch an manch anderem Spielort eng zu. Am Freitag strich selbst die Agra Halle zwischenzeitlich die Segel, als die Bude während der Konzerte von Covenant und Deine Lakaien aus allen Nähten zu platzen drohte.
Zwecklos ist dagegen wohl der alljährliche Zeter und Mordio über die teils wenig nachvollziehbaren Hallenbelegungen. Die Terminkalender und Vorstellungen mancher Künstler sind da meist nicht minder wunderlich wie die Entscheidungen des Veranstalters die eine Band hierhin die andere dorthin zu stopfen. Bei einem solchen Mammutprogramm, wie es das WGT bleiben natürlich Überschneidungen kaum aus. Segen und Fluch, Vielfalt und Verzicht zugleich, ohne Aussicht auf baldige Heilung. Da hilft nur eins: es akzeptieren und Prioritäten setzen.
War das 20. nun ein gutes Wave Gotik Treffen? Ja, das war es. Ob es ein besonderes Treffen war? Ich denke eher nicht. Das Line-Up versprach sehr viel, hielt aber längst nicht alles. Mal ließen es ein Künstler an Elan fehlen, mal streikte die Technik und die Stimmung in der Stadt unterschied sich von der der Vorjahre nur unwesentlich. 2007 ausgenommen zeichnete sich das übliche Bild aus Gemeinschaft, familiärem Flair und vor allem Frieden. Es wäre auch mehr als schade gewesen, hätte man dem Event ausgerechnet zum Jubiläum einen neuerlichen linken Haken verpasst. So bleibt abschließend festzustellen, dass 2011 spürbar mehr Besucher in Leipzig unterwegs waren, das meiste recht gut verlief, größer aber nicht unbedingt mit besser gleichzusetzen ist.
Viel Spaß gemacht hat es Zweifelsohne, auch wenn der 5 Tage Marathon nicht jedermanns Sache sein dürfte. Da gilt es sich seine Kräfte gut einzuteilen, um am Finalabend noch zu stehen. Vor allem wenn man wie viele in der Szene nicht mehr zu den Jungspunden zählt und das Ü30 Rentnerdasein seinen Tribut fordert. 😉
ZURÜCK IN DER WIRKLICHKEIT
Morsch wie eine alte Eiche spielte ich somit an diesem Dienstagmorgen meinen eigenen Radlader und hievte mich mit letzter Gewalt aus den Federn. Jetzt noch irgendwie die Sachen packen und hoffen dass ich auf dem Weg zum Auto a) nicht zusammenklappe oder b) nicht auf halbem Wege einschlafe. Die kühle aber feuchte Morgenluft (es hatte offenbar in der Nacht geregnet) tat ihr Möglichstes, um den Rost aus meinen Gliedern zu vertreiben. Allmählich kehrten die Lebensgeister zurück. Doch etwas hatte sich geändert, etwas fehlte!
Am Morgen danach war das Flair des Wave Gotik Treffens mit einem Schlag verschwunden. Keine schwarz gekleideten Menschen mehr, die die Straßen säumten. Ein paar Anwohner hier, ein Blumenladen dort. Leipzig fühlte sich anders an ohne Grufties. Geradezu unwirklich normal. Es ist schon frappierend wie sich die eigene Wahrnehmung ändert, wenn man es gewohnt ist das Ungewöhnliche als Normalität zu begreifen.
Aber es half ja nichts. Die letzte Messe war gelesen und nur die Strassenbahnschilder der Linie 31 erinnerten noch daran dass es ein 20. Wave Gotik Treffen in Leipzig gegeben hatte. Also flugs die Reisetasche ins Auto gepackt, den Pensionsschlüssel unter der Fussmatte versteckt, wo ich ihn gefunden hatte und bye bye Junimond! Auf ein neues im nächsten Jahr, wenn Leipzig zu Pfingsten wieder viel Schwarz und wenig Trauer trägt!