Es fühlt sich nie wirklich an wie Festival, wenn man beim Watt En Schlick Fest am Strand von Dangast unterwegs ist. Man sieht Familien auf Picknickdecken, Kinder, die im Schlick spielen, Menschen, die genüsslich den berühmten Dangaster Rhabarberkuchen in der Sonne genießen und ganz nebenbei gibt es auch noch Musik auf vier Bühnen. Während die Beliebtheit des kleinen Festivals in den letzten 10 Jahren rapide zugenommen hat (so waren die Tickets für 2024 in nur 5 Minuten ausverkauft), sind es doch immer wieder die gleichen Gesichter, die man vor Ort entdeckt. Sei es auf der Bühne, im Bühnengraben oder im Publikum.
Freitag
Schon der erste Tag ist gesäumt von Wiederholungstäter*innen. Moop Mama, die auch in den vergangenen Festivalausgaben für hervorragende Stimmung gesorgt haben, eröffnen nach langer Dankesrede von Festivalmacher Till Krägeloh das Musikprogramm auf der Hauptbühne. Nach jüngster Trennung von Frontmann Keno hat die Blaskapelle sich Musikerin Älice geschnappt, um den Posten zu übernehmen. Für einen der ersten Auftritte in dieser Formation klappt das schon ganz gut, kann stimmungstechnisch allerdings noch nicht ganz mit den Vorjahren mithalten. Mal schauen, wie es im nächsten Jahr mit etwas mehr Routine aussieht. Natürlich hat auch Flowin Immo wieder seine berüchtigte Bretterbude mitgebracht und eröffnet die Palettenbühne mit seinem altbewährten Impro-Set, bevor er diese vor allem jungen neuen Bands zur Verfügung stellt.
Als spontane Überraschung stehen Blond um 16 Uhr auf der Hauptbühne. Auch sie waren in der Vergangenheit Teil des Watt En Schlick Line-Ups, spielten aber damals noch im Zelt. Die Songs der neuen Platte Perlen funktionieren ganz hervorragend vor dem offenen Dangaster Publikum, bei dem auch Männer nicht davor zurückscheuen, Songs über Periodenprobleme mitzusingen.
Zwischen den Acts auf den Hauptbühnen gibt es viel spannendes Neues zu entdecken. Pip Blom aus den Niederlanden zum Beispiel, die sich auf der La Mer Bühne den norddeutschen Gästen mit mitreißendem Power-Pop vorstellen können.
Auch Sophie Hunger und Bonaparte sind gern gesehene Gäste und spielen 2023 das erste Mal in dieser Konstellation ihre gemeinsamen Songs, aber auch die Stücke des jeweils anderen. Ein gutes Programm für den frühen Abend, das einen Großteil der Gäste vor die Hauptbühne lockt und mitreißt, auch wenn die Songauswahl bisweilen etwas zusammenhangslos wirkt.
Rhabarber und Aprikosen
Mit Kytes auf La Mer und Donkey Kid auf der Palette folgen wieder zwei neue Gäste, die ein ganz unterschiedliches Publikum bedienen. Donkey Kid schlägt dabei in die melancholisch-wavige Indieschiene, die vor allem bei jungen Menschen ein willkommenes Comeback zu feiern scheint. Kytes hingegen gehen die Sache etwas moderner an. Elektronik trifft auf Drums trifft auf pinke Overalls trifft auf Steinobst und ansteckend gute Laune. Im Anschluss übernimmt das Ezra Collective und schafft es ganz ohne Gesang, dafür mit Bläsern, Drums und extrem guter Laune, den Platz zum Schwingen zu bringen, bevor um 21 Uhr die Britpopper von Bilk, der derzeit extrem angesagte Rapper Disarstar und der verträumte Singer-Songwriter Dekker um die Gunst des Publikums kämpfen dürfen. Wobei kämpfen das falsche Wort ist, denn jeder der drei Acts wird mit offenen Armen aufgenommen. Mit Bukahara und Flo Mega findet der erste Abend des Fests einen fröhlich schwingenden Ausklang, bevor Tag 2 etwas mehr Spannung bereit hält.
Samstag
Einer unserer wenigen Kritikpunkte am WES in der Vergangenheit war, dass das Programm auf der Hauptbühne keineswegs schlecht, aber immer etwas zu langweilig war. Das soll sich 2023 endgültig ändern. Der Samstag startet mit richtig hartem Ro… Schlager. Roy Bianco und die Abbrunzati Boys spielen bei knallendem Sonnenschein vor dieser wundervollen Kulisse und auf einmal machen auch die schmalzigsten Nummern der Österreicher Sinn. Tonnenweise überschwallende Amore, tobende Schlagerstrudel und herzliche Wände der Begegnung durchziehen das Set. Kann etwas ein Guilty Pleasure sein, wenn es alle gut finden?
Mit Berq und Levin Liam wird es dann wieder etwas angepasster. Die beiden noch recht jungen Nachwuchskünstler dürften auch das junge Nachwuchspublikum mit ihren modernen Popsongs begeistern und bieten den Älteren eine kurze Verschnaufpause für ein Stück Rhabarberkuchen oder einen kurzen Sprung in den Jadebusen. Mit Nugat auf der Palette, Paul Gerlinger auf dem Floß und Dominik Hartz auf La Mer bleibt es frisch. Die Sets der drei werden von einem heftigen Regenschauer überrascht, aber das norddeutsche Publikum ist vorbereitet und kann schneller in wetterfeste Kleidung wechseln, als Clark Kent zu Superman werden kann. Jedes Jahr auf’s neue faszinierend.
Alli Neumann lockt kommt die strahlende Sonne wieder raus und die Stimmung ist perfekt. Jede*r, wirklich jede*r mag Alli, kein Wunder, schafft sie es mit ihrer überragenden Bühnenpräsenz, wirklich guten Popsongs mit wirklich guten und ehrlichen Texten genau den Nerv der Zeit zu treffen. Das tut auch zeck, der im Anschluss mit seiner Gitarre auf La Mer übernimmt. Saubere Nummer, bisschen zu glatt für einige. Die finden sich dann beim Bulgarian Cartrader auf der Palette besser aufgehoben. Ebenfalls allein mit Gitarre schafft es Daniel Stoyanov mit seinem breiten Grinsen die Leute, um den kleinen Finger zu wickeln. Am Ende des Sets würde man dem charismatischen Typen wirklich jede Rostlaube zu einem unverschämten Preis abkaufen.
Da kommt sie, die erste Herausforderung. Peaches. Musikerin, Feministin, Gesamtkunstwerk. Die Kanadierin mit ihrem schroffen Elektrosound übernimmt um 16 Uhr die Hauptbühne. Mal im Tittenanzug, mal in Lack und Leder, mal halbnackt spuckt sie ihre sex-positiven, provozierenden und augenöffnenden Texte in die Menge. Diese ist gespalten. Während ein Großteil das Dargebotene anerkennend aufnimmt, herrscht vor allem in den Gesichtern vieler Männer Verwirrung, Unverständnis und vielleicht auch ein bisschen Angst. Gut so, dafür ist Kunst da. Auf ihren Kostümen prangen Aufschriften wie „Thank God for Abortions“ oder „Drag Saves Lives“ oder „Trans Rights Now“ und zumindest da scheinen sich die Gäste zustimmend einig zu sein und spenden lauten Applaus.
„Thanks for bringing your kids“
bedankt sich Peaches sichtlich gerührt beim Anblick der zahlreichen Kids im Publikum, die am Abend vermutlich einige Fragen haben werden.
Mit krassen Frauen geht’s weiter. Auf La Mer gibt’s düsteren, trockenen Post Punk von Dry Cleaning aus England, der durchaus großen Gefallen findet, auch, wenn die starre Mimik von Sängerin Florence Shaw nur wenig mitreißend ist. Mit Paula Carolina gibt es auf dem Floß das komplette Gegenteil. Neue Deutsche Welle in Modern mit einer jungen, energetischen von Ohr zu Ohr grinsenden Band. Funktioniert also nicht nur auf Tik Tok. Schön.
Aber zu viel Gute Laune ist auch langweilig. Auf der Main Stage übernimmt der UK Grim. Die Sleaford Mods setzen an, wo Peaches aufgehört hat: Im Meinungen spalten. Während das Duo sich sonst eher in dunklen, nebligen Clubs zuhause fühlt, funktioniert der minimalistische Sound der zwei auch am Strand in der untergehenden Sonne ganz gut und löst vor allem in den vorderen Reihen wilde Euphorie aus, während man sich weiter hinten fragt, was der wütend-rappende Typ am Mikro und der hampelnde Typ am Laptop da eigentlich machen. Minimalistisch. Wütend. Gut.
Wer das schon wild fand, wird bei FM Belfast die Welt nicht mehr verstehen. Die Isländische Reisegruppe hat scheinbar alle Instrumente, alle Geburtstagspartydekoreste und alle alten Klamotten von Mutti und Papa aus den 80ern, die sie auf dem Dachboden finden konnten, eingepackt und irgendwie zu Kunst verwurstet. Einmal mit Alles bitte. Gesang, egal von wem, Schellenringe, unkoordinierte Rhythmusgymnastik und unbändiges Lichtgewitter untermalen den reykjavikschen Discosound. Die Gruppe ist dabei so in ihrem eigenen Film gefangen, dass sie ihr Set eiskalt um eine Viertelstunde überziehen. Scheiß auf Ärger. Hauptsache Tanzen.
Die von vielen sehnlichst erwartete Headlinerin Roísin Murphy muss krankheitsbedingt absagen und wird mit DJ Koze ersetzt. Ein reines Elektroset auf der Hauptbühne zum Tagesabschluss gab es so auch noch nicht, scheint aber nicht die schlechteste Idee gewesen zu sein. Wem’s nicht gefällt, der macht Feierabend und ruht sich für den Sonntag aus.
Sonntag
Dieser wird anstrengend. Nicht wegen der Musik, sonders des Regens, den niemand, wirklich niemand eingeladen hat. Immer wieder eingeladen hingegen werden Moritz Krämer und Francesco Wilking. Ob Solo, mit der Höchsten Eisenbahn, als Crucchi Gang – man könnte meinen, dass vor allem Herr Wilking sich jedes Jahr ein neues Projekt sucht, um Kurzurlaub in Dangast zu machen. In diesem Jahr verstecken sich die Beiden gemeinsam mit einer großen Band hinter dem Namen Artur und Vanessa. Das Kollektiv hat einen fiktiven Freizeitpark erfunden. Eine autarke Gesellschaft mit all ihren Höhen und Tiefen, die auf wundervoll naive Art vertont werden. Eine schöne Idee. Ein schöner Auftakt.
Während im Jadebusen die chaotischte Schlickrutschenweltmeisterschaft bisher ein Ende findet, hüllt die griechische Σtella den Strand in warme, nostalgische Klänge und kann so auch die Sonne überreden, noch ein wenig zu scheinen. Das gelingt Temmis und Maeckes im Anschluss nicht mehr. Während Maeckes im weißen Jackett all seinen Charme spielen lässt und zumindest die Gäste auf seine Seite zieht, öffnen sich die Wolken für den ersten großen Schauer des Tages. Die Gäste wie immer vorbereitet, so hüllt man sich auch bei Temmis auf der Palette im Nullkommanix in die Regenkleidung. Hier passt das Wetter immerhin zum melancholischen Sound. Ganz ähnlich wie Drangsal oder Edwin Rosen geht dieser zurück in die 80er und zieht vor allem die jüngeren Besucher*innen vor die Bühne.
Voll Ladung 90er gibt’s bei Son Mieux. Ziemlich belangloser cheesy Balladen-Power-Pop-Rock der Nickelback vor Neid erblassen lassen würde. Kann man machen, muss man aber nicht.
Mit Ghost Woman und Ditz gibt’s gleich zwei krachende Acts, die die vollgeschmalzten Ohren wieder durchspülen. Ditz machen wirklich dreckigen Postpunk und nehmen die Palette auseinander. Alles, was erklommen werden kann, wird von Sänger Cal Francis erklommen, ein Bier nach dem anderen wird gekippt und trotzdem schafft er es irgendwie noch, wütend die Texte ins Mikro nuscheln. Mitnichten der energetischste, spannendste Auftritt des Festivals.
Bisschen optimistischer wird’s bei Fatoni, ebenfalls Dauergast in Dangast, der auf der Bühne seinen Regenponcho zerreißt, nur wenige Minuten bevor das Gelände kurzzeitig wegen Gewitter geräumt werden muss. Das verläuft ein bisschen chaotisch und noch bevor alle Leute in ihren Camps angekommen sind, geht es auch schon wieder weiter. Fatoni kriegt noch ein paar Minuten bevor die Bühne für die Headliner*innen aufgeräumt wird. Aber viel besser als auf der Hauptbühne ist Fatoni eh bei Flowin Immos Allstar Session aufgehoben, wo er gemeinsam mit Mitgliedern von Moop Mama oder Artur und Vanessa frei und ungehemmt freestylen kann. Wie auch in den vergangenen Jahren bilden Immo und Fatoni dabei das Duo Infernale, bei dem sowieso kaum jemand anders zu Wort kommen kann. Gemeinsame Platte wann?
Nach ’ner Stunde ist Schluss und Maxïmo Park sorgen dafür, dass wir uns alle nochmal 15 Jahre jünger fühlen. Books From Boxes geht noch immer genauso in die Beine wie damals in der siffigen Indie-Disse. The coast is always changing klingt in dieser Kulisse besonders schön und auch die neuen Songs funktionieren erstaunlich gut und fügen sich ganz harmonisch in den Katalog der Klassiker ein. Ein gelungener Abschluss für jene, die mit Nina Chuba vielleicht nicht mehr ganz so viel anfangen können, auch, wenn man gestehen muss, dass die Veranstaltenden mit ihr natürlich eine der aktuell beliebtesten deutschen Künstler*innen ins Netz gegangen ist. Vor allen die Jugend, die einen nicht unerheblichen Teil des Publikums ausmacht, kommt damit am Sonntagabend richtig auf ihre Kosten.
Und dann war es das leider schon wieder mit der 10. Ausgabe des Watt En Schlick. Ein Fest, das in diesem Jahr von einigen für das eher ausgefallene Line-Up kritisiert wurde, schließlich fehlten Festivalfavoritengäste wie beispielsweise Bilderbuch oder Thees Uhlmann aus den Vorjahren. Dennoch war es wieder ein Wochenende geprägt von friedlichem Beisammensein, von Offenheit, von Freunde. In Dangast ist man nett zueinander. In Dangast verlässt man den Strand ordentlich. In Dangast kann man noch ein Festival erleben, ohne überwältigt zu werden von bunten Buden großer Megasponsoren, die ihren Plastikmüll an die Gäste verteilen. In Dangast geht es um die Musik. In Dangast geht es um die Freude und um die Freunde. In Dangast funktioniert Hip Hop, neben Rock, neben Punk, neben Disco neben Pop. Hoffentlich bleibt es noch mindestens 10 weitere Jahre so.
Galerien (by Thea Drexhage bs!2023)
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Watt En Schlick Fest