Am 18. Juli ist es endlich wieder soweit und das schöne Deichbrand Festival bei Cuxhaven geht mit etwa 60.000 BesucherInnen in die nächste Runde. Mit so vielen Feierwütigen ist vom gemütlichen Rockfestival an der Nordsee natürlich nicht mehr viel übrig, dennoch wirkt das Deichbrand jedes Jahr auf neue familiär. Dies ist sicher nicht zuletzt der liebevollen Gestaltung des Geländes zu verdanken, welches im Gegensatz zu anderen Festivals etwas freier ist von riesigen Buden zahlreicher, teilweise fragwürdiger Sponsoren. Dafür gibt es Strandsandhügel zum relaxen und fast von überall gute und freie Sicht auf die beiden Hauptbühnen.
Pommes sind nicht das Volk,
Pommes sind international,
Pommes sind für alle da.
Auf diesen bleibt es am Donnerstag allerdings noch mucksmäuschenstill. Laut wird es dafür auf der Jever Hafenbar und der Palastzeltbühne. Erstere wird eröffnet von unserem liebsten Bremen-Nord’ler Grillmaster Flash, der im letzten Jahr durch die Unterstützung des Grand Hotel van Cleef auf Bühnen verschiedenster Größenordnungen spielen konnte. Mit Hymnen wie „Sottrum“, einer Ode an die Heavymetalhauptstadt oder politischen Songs über Pommes hat Grilli das Publikum bereits nach wenigen Minuten bei sich. Uns würde es nicht wundern, wenn er bei dem Tempo bereits im nächsten Jahr eine der großen Bühnen bespielen wird.
Im Anschluss bringen die österreichischen Russkaja mit osteuropäischen Polka-Punk-Rhythmen das Palastzelt zum Brodeln. Streicher, Blechbläser und einfache Mitgröhltexte, die mit ein paar Bier sogar noch besser funktionieren, scheinen der perfekte Mix, um das Publikum auf die kommenden Tage scharf zu machen. Etwas weniger brodelt es bei Odeville, die zwar mit ihrem Gitarrenpop gut beim Publikum ankommen, aber zum Mitgröhlen mit 2 Promille ist das natürlich nicht, da bedarf es schon zwei nüchterner Ohren.
Absolut nicht mehr nüchtern sind Scumbag Millionaire aus dem schwedischen Gothenburg, die mit ihrem rauen, unbeschwerten Garagenrock die ersten Mosh- und Circlepits auf dem Strandsand der Jever Hafenbar entfachen und selbst koordiniert unkoordiniert über die Bühne fegen. Etwas bluesiger, aber nicht weniger energetisch geht es im Anschluss mit The Wake Woods weiter, die das Publikum erfolgreich bei Laune halten können.
Doch nach einer halben Stunde wird es Zeit ins Zelt zu wechseln, denn dort zeigt Martha Jandová mit ihrer Band Die Happy den Herren der Schöpfung erstmal, wie das mit dem Rock so richtig funktioniert. Energiegeladen wie immer und vielleicht etwas lauter als nötig zeigt die Band aus Ulm, die gerade im Studio an neuem Material arbeitet, das sie auch nach über 25 Jahren Bandbestehen und über 1000 Konzerten noch nicht zum alten Eisen gehören, denn der Sound, den Die Happy an diesem Abend produzieren, klingt frisch wie eh und je. Auch die Newcomer von Bloodhype wissen auf der Hafenbarbühne genau was sie tun und wie sie die Gäste trotz Regenschauern bei Laune halten können. Als letztes geht es für uns noch einmal ins Zelt zu den Mittelalter-Folk-Rockern von Subway to Sally, die es trotz ihres eher spezifischen Genres und als alleinige Vertreter eben dieses, schaffen, das Zelt auch bis in die hintersten Ecken zu füllen und zu begeistern. So viel Toleranz gegenüber anderer Musikstile wünscht man sich auch auf allen Festivals. An dieser Stelle endet für uns der Aufwärmdonnerstag, auch wenn es mit Bands wie Magma Waves und Annisokay noch bis spät in die Nacht weiter geht.
Freitag
14 Uhr. Die Hauptbühnen des Deichbrand Festival 2019 werden eingeweiht und das mit einem Knall. Die Crossover-Rocker Skindred sind schon so lange im Geschäft, dass ihre ganze Performance von Anfang bis Ende absolut mühelos erscheint. Sänger Benji Webbe wickelt die zahlreich erschienenen Gäste mit seinem Charme und derben Humor so um den kleinen Finger, dass sie alles was er möchte nachmachen. So wird wild mitgesungen zu aktuelleren Nummern wie „That’s my Jam“ oder „Kill The Power“ und hart gemosht zum Need For Speed Klassiker „Nobody“.
Im Zelt spielt kurz darauf die tolle Sookee, die es sich trotz ausgefallener Festivalstimmung zum Glück nicht nehmen lässt, durch ihre Musik und vor allem durch ihre Ansagen auf Rassismus, Homophobie und Angst vor Diversität hinzuweisen. Neben zahlreichen aufrüttelnden Texten findet sie als vermutlich einzige Künstlerin an diesem Wochenende harte Worte für Festivalmitbestreiter wie Bonez MC & RAF Camora und, sogar entgegen der populären Meinung, Alligatoah von Trailerpark, denen trotz ihrer frauenfeindlichen und homophoben Texte ein Platz auf den großen Festivalbühnen eingeräumt wird, weil die meisten Gäste dies scheinbar so wollen. Wir wünschen uns mehr KünstlerInnen wie Sookee, vor allem auf den großen Bühnen und nicht im Zelt, denn in den letzten Jahren hat die Hip-Hop Branche mit zahlreichen neuen Künstlern (Fatoni, Kafvka …) gezeigt, dass Hip-Hop auch klischeefrei, politisch, kreativ und fair sein kann.
Mit ähnlich starken politischen Aussagen wäre es auf der Water Stage weitergegangen, hätte sich Christoph Sell, der Gitarrist von Feine Sahne Fischfilet nicht den Ellenbogen gebrochen. Mit Clowns wurde schnell Ersatz gefunden, die für einen kleinen Schmunzler sorgten, als Bassistin Hanny J ebenfalls mit eingegipstem Arm auf die Bühne marschierte. Mit der Punk Band aus Melbourne wurde jedenfalls ein ebenbürtiger Ersatz gefunden, die FSFF in puncto Punk in keiner Weise nachsteht.
Es folgen Wanda. Wanda…Wanda. Nun, Wanda haben „Amore“ für alle. Und die Gäste eine Menge „Amore“ für Wanda. Vor der Bühne ist es brechend voll. Die BesucherInnen kleben an den Lippen von Sänger Michael Marco Fitzthum, aber warum? Schmieriger, österreichischer Schlager-Mitklatschpop ist anscheinend salonfähig geworden, was nicht schlimm wäre, wären da nicht für die versehentlich vorbeilaufenden, nichtsahnenden Gäste diese schrecklichen, schrecklichen Ohrwürmer.
Bussi, Baby. Nein Danke.
Zum Glück eilen kurz darauf die Blood Red Shoes zur Rettung. Die Bühne erstrahlt in schlichtem schwarz. Ebenso schlicht wie der Alternative Rock der Briten. Und das ist absolut positiv. So machen die Blood Red Shoes genau die Musik, für die das Deichbrand als ehemaliges „Rockfestival am Meer“ im Jahr 2005 geschaffen wurde. Das Deichbrand wirkt an diesem Wochenende etwas konzeptlos. Neue gehypte MusikerInnen müssen mit ins Programm und spalten dadurch das Publikum. Viele Aktivitäten außerhalb des Geländes, wie ein riesen Outdoor Pool oder Helikopterrundflüge, ziehen die Gäste weg von der eigentlichen Veranstaltung. Generell fällt auf, dass das Infield erstaunlich oft sehr leer bleibt.
Nicht so bei Samy Deluxe der mit seinem Programm SaMTV Unplugged unterwegs ist. Mit einer sehr großen Live Band und Gästen wie Fantasma Goria gestaltet sich der Auftritt erstaunlich spannend. Doch im Anschluss gilt es zu fliehen vor Bonez MC auf der Water Stage. Zum Glück spielen zeitgleich im Zelt die gern gesehenen Deichbrandgäste Tocotronic. Für die Leute, die die Band im letzten Jahr live gesehen haben, hält der Auftritt zwar keine großen Überraschungen bereit, dennoch zünden überwiegend alte Nummern wie „Aber hier leben, nein danke“ „Die Idee ist gut, aber die Welt noch nicht bereit“ immer wieder auf’s Neue. In diesem Sinne
„Let there be rock!“
Ein letztes Mal geht es nun zur Fire Stage zum großen Headliner des Abends: 30 Seconds to Mars – die Meinungen unter den Gästen gehen aufgrund der musikalischen Entwicklung der Band und des Bühnenverhaltens Jared Letos im Vorfeld auseinander, doch an diesem Abend liefert die Band einen soliden Auftritt. Besonders die Alten Nummern wie „Closer to the edge“ oder „This is war“ lassen selbst die größten Zweifler nostalgisch werden. Zusätzlich gibt sich Jared Leto zugänglich und publikumsnah, wandert (umgeben von unzähligen Securities und Kameras) durch’s Infield und verwickelt den ein oder anderen Gast in ein kleines Pläuschchen. Hollywood zum Anfassen, sicherlich ein Highlight des diesjährigen Festivals.
Samstag – Kardiosaufen und Bieryoga
Mit dem Frühsportprogramm der Donots startet der stärkste Festivaltag im Trainingsanzug. Sportmuffel gibt es an diesem Wochenende keine, das Gelände ist bis in die hintersten Ecken gefüllt. Es bedarf keiner 3 Akkorde von „Lauter als Bomben“ und im Infield beginnen die ersten Circle Pits ordentlich Staub aufzuwirbeln. Mit 25 Jahren Bandgeschichte sind die Donots definitv im besten Musikeralter und immer ein Garant für eine Spitzenshow. Bei allem Kniebeugen und Bierwitzen zum Spaß sind die Donots an diesem Wochenende eine der wenigen Bands, die ihre Bühne für eine wichtige Ansage zugunsten von Sea Watch nutzen und geben eben diesen für ein paar wichtige Minuten ein Mikrofon.
Seenotrettung ist kein Verbrechen!
Auf der Water Stage übernehmen Deaf Havana, deren Sound zwar seichter, aber nicht weniger gut geworden ist, bevor es mit den Rogers, die sich jedes Jahr auf‘s neue einen Platz auf der roten Bühne reservieren, wieder politischer wird. Die Düsseldorfer Punker holen für den Song „Zu Spät“ Ingo von den Donots zurück auf die Bühne. Weltpremiere. Geglückt! Die Rogers liefern, wie auch im Jahr zuvor einen soliden Auftritt ab, doch Highlight an diesem Samstag wird ganz klar der folgende Act:
Pünktlich zum Beginn des Frank Carter and the Rattlesnakes Sets öffnen sich die Wolken über Cuxhaven und geben alles frei was sie haben. Regen und Hagel treiben 90% der FestivalbesucherInnen zurück in ihre Zelte. Wer nicht aus Zucker ist bleibt für Frank Carter, der das Wetter mit „ach, wie England im Sommer“ abspeist und spielt, als wären alle 60000 Festivalgäste vor der Bühne. Da die wahnsinnig sympathischen Musiker eh die meiste Zeit in der Menge statt auf der Bühne verbringen, fällt die große Leere auf dem Platz auch gar nicht so auf. Die Show ist dreckig, intim und in dieser Form an diesem Wochenende einmalig.
Wasser für alle!
Einmalig hätte die Donots Show auch sein können, aber die spielten halt zwei Mal und übernehmen nach Frank Carter die Herrschaft über die Jever Hafenbar. Ein auf der Hauptbühne angekündigtes „Geheimkonzert“ zieht trotz anhaltenden Regens zahlreiche Besucher vor die kleine Hafenbarbühne, sodass sich viele mit dem Dasein als Zaungast abfinden müssen. Drinnen brodelt es. Der Strandsand fliegt, der Ingo fliegt…alles fliegt. Die Energie der Donots trotz des ersten Auftritts ungebremst. Auch an dieser Stelle nutzt die Band ihre Spielzeit wieder für den guten zweck und sammeln fleißig Becher für die Herzmenschen Viva con Agua.
Wer nach so einer Nummer Zeit zum durchatmen braucht erholt sich bei den White Lies. Sänger Harry McVeigh wirkt im Vergleich zur vergangenen Clubtour überraschend gut gelaunt. Vielleicht, weil es endlich aufgehört hat zu regnen, und sich der Platz vor der Bühne gemächlich wieder füllt. Spätestens bei Dendemann ist das Infield wieder richtig voll. Hip Hop steht beim diesjährigen Deichbrand hoch im Kurs – immerhin ist Dendemann einer der Guten, der abseits gängiger Klischees, mit beispielsloser Wortgewandtheit nun auch vor politischen Themen keinen Halt macht. Sein aktuellstes Album „Da nich für“ erschien Anfang des Jahres, doch die 90er Jahre Prägung ist weiterhin unverkennbar. Kurzum: der Auftritt macht Spaß, auch für Hip-Hop-Muffel.
Wem das doch zu viel Sprechgesang war, kann im Anschluss bei The Kooks und Two Door Cinema Club sein Indieherz wieder zum Springen bringen. Beide Bands liefern gute, für den Moment perfekte Auftritte ab, die jedoch in der Gesamtheit des Festivals keinen bleibenden Eindruck hinterlassen.
Anders als das große Finale von The Chemical Brothers – auf der Electric Island gibt es beim Deichbrand rund um die Uhr elektronische Musik, die Chemical Brothers bringen diese auf die Hauptbühne. In wahnsinniger Lautstärke. Mit wahnsinniger Lichtshow und ausgeklügelten Visuals, die jeden Abschnitt des durchgängigen Sets perfekt untermalen, die Musiker selbst sieht man nur selten. Aber nach den großartigen Chemical Brothers gibt es nach Mitternacht noch eine Überraschung an der Hafenbar: Adam Angst drehen zu später Stunde nochmal richtig auf, etwas verspätet, da die Chemical Brothers auf der Hauptbühne eiskalt ihr Set überziehen. Doch das lange Warten hat sich gelohnt, der Bereich vor der Bühne ist auch zu später Stunde noch prall – zu müde für Adam Angst? Das ist gar keine Option. So geht es mit Stücken wie „Alexa“ oder „Professoren“ noch tiefer in die Nacht, die Quittung gibt’s am Sonntag!
Sonntag
12 Uhr. Die Nacht war kurz und das merkt man auch auf dem Infield, denn im Gegensatz zu den vorherigen Tagen hat das Festival am Sonntag keinen Publikumsmagneten am Start. Watch Out Stampede läuten den Festivalsonntag ein. Die bremer Jungs liefern eine tolle Show ab und zeigen eindrucksvoll ihre musikalische Entwicklung der letzten Jahre, aber Post-Hardcore ist eben nicht für jeden auf so einem musikalisch durchmischten Festival gemacht. Es zeigt sich jedoch schnell, dass die Abwesenheit der Gäste nicht zwingend mit Musik oder Uhrzeit zusammenhängt, denn auch bei den kommenden Acts bleibt der Platz vor der Bühne nur spärlich besucht.
Es übernehmen die Indierocker von Arkells, die sich in ihren Songs überwiegend mit aktuellen politischen Themen der USA und Kanada beschäftigen. Der Auftritt geht gut in die Beine, aber so richtig wach wird das Publikum erst im Anschluss bei Swiss und die Anderen. Der Platz füllt sich etwas mehr. Der Auftritt lässt sich zusammenfassen mit den Worten: Die falsche Musik aus den richtigen Gründen. Rapper Swiss äußerst sich in seinen Texten stark politisch aber leider mit wenig Finesse. Die Parolen stumpf- aber immerhin gut zum Mitsingen.
Lange musste man auf das erste Album des Singer-Songwriter Wunders Tom Walker warten – nach mehreren Radiohits war es dann im Frühjahr dieses Jahres soweit. Dementsprechend darf Walker auch auf dem Deichbrand Festival nicht fehlen und zieht zahlreiche Gäste in seinen Bann, so voll wie bei Swiss und die Anderen ist es allerdings nicht mehr. Das ändert sich auch bei Kodaline nicht. Die Jungs aus Irland sind mit ihrem Herzschmerzpop nach Walker der zweite sehr ruhige Act, sodass dem ganzen Sonntag plötzlich der Schwung zu fehlen scheint.
A monkey needs to dance so do you!
Etwas besser machen es die Schweden von Johnossi. Nur zu dritt liefern Johnossi eine ordentliche Indie-Rock-Show ab, der spätestens mit dem Indiepartyklassiker „Man must dance“ auch die letzten verschlafenen Gäste aus der Reserve lockt. Das ist alles schön und gut, aber für so richtig Stimmung gibt es da ja noch die absolut nicht geheime Geheimwaffe aus dem Wendland:
Madsen. Der Platz füllt sich. Die Verstärker wummern. „Macht euch laut“ – machen alle. Madsen machen (wie immer eigentlich) so laut, das die PA streckenweise den Geist aufgibt. Minimal leiser geht es weiter, dann klappt’s auch mit der Technik! 1,5 Stunden alte und neue Hits. Das Publikum findet alle geil. An dieser Stelle sind Madsen für uns die Headliner der Herzen und des Tages, denn durch die unwichtigen Dinge des Alltags muss das Deichbrand für uns nach Madsen enden. Hätte es ein besseres Ende geben können? Vermutlich nicht!
Fazit: Das Deichbrand ist immer wieder wunderschön. Alles ist friedlich, liebevoll und irgendwie familiär, da ist es auch nicht schlimm, wenn das Line-Up nicht immer stimmig ist. Findet sich auf den beiden im Wechsel bespielten Hauptbühnen nicht das passende, gibt es immer noch das Palastzelt, das zwar oft mit kleineren, aber nicht weniger spannenden MusikerInnen aufwartet. Ein kleiner Schwenker zurück in Richtung Rockfestival wäre für die Zukunft jedoch ein toller Move, der einfach alles NOCH BESSER machen würde.
Galerien (by Thea Drexhage bs! 2019)