Das Label Exile on Mainstream lädt ein, drei Tage im wundervollen Rostock zu verbringen und dabei bester Musik abseits des Mainstreams zu lauschen. Dazu kommt die frische Ostseeluft und überdimensionale, handtaschenstehlende Monstermöwen, wer kann dazu schon „Nein.“ sagen. Kaum jemand, würde man vermuten.
Beim Betreten des JAZ am Freitag kommt jedoch die Ernüchterung: die Besucherzahl hält sich sehr in Grenzen, was sehr schade ist, da die Festivalveranstalter einen Teil der Eintrittsgelder an Rostock Hilft, einer Initiative zur Flüchtlingshilfe, spenden möchten. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Im hellen Eingangsbereich des JAZ steht man zwischen zwei Türen: rechts geht es ins Café und links in den Bunker. Die Künstler werden versetzt und abwechselnd in beiden Sälen spielen, sodass es keine zeitlichen Überschneidungen gibt. Sympathisch. Hinter beiden Türen hört man noch lautes Genuschel und Geklimper. Türen knallen, Menschen wuseln mit allerhand Kram und Kisten hin und her. Soundcheck. Also bleibt noch Zeit für ein Bierchen, eine Zigarette oder was man sonst noch so vor Konzerten machen kann.
20 Uhr, laut Plan sollte nun die erste Band loslegen, aber im Bunker bleibt es dunkel. Kein Problem: Zeit für noch ein Bierchen, noch eine Zigarette und auch ausreichend Zeit um noch einmal die gesamte Kameraausrüstung zu entstauben, denn tatsächlich streichen noch über 30 Minuten ins Land, bis die ersten Töne im Saal erklingen.
Freitag
Um 20:30 geht es nun endlich los und Balg aus Berlin entern die Bühne. Trotz Club Mate-Antrieb spielt das Trio, um die charmant bebrillte Frontfrau sehr verhalten, man könnte fast schon meinen unmotiviert, aber vielleicht gehört diese „ach-eigentlich-ist-es-mir-recht-egal-was-wir-hier-machen“-Coolness auch zum Gesamtkonzept. Experimenteller und frecher, sehr lauter Noiserock erfüllt den Bunker. Das Publikum steht teilweise kopfnickend im Schatten der hinteren Ecken des Raumes oder klammert sich sehnsuchtsvoll an die Bar. Vor der Bühne herrscht nur mäßiges Treiben. Von überspringenden Funken fehlt noch jede Spur. Die Ohren der Besucher werden zwar schon ganz nett vorgewärmt, aber die ganz große Festivaleuphorie lässt noch auf sich warten.
Szenenwechsel zur Café-Bühne. Dort warten ein leerer Klappstuhl, eine Gitarre, ein Schellenring…und ein Lasagnebackofenblechdingsbums mit einer schweren Eisenkette. Was ein wenig an den Altmetallverwertungshof denken lässt, entpuppt sich als Bühnenaufbau des virtuosen One-Man-Band-Wunders MarKuz Walach. Angepasst an die vorherige Verspätung beginnt auch dieser sein Set ein halbes Stündchen später. Das wird wohl ein langer Abend. Zum Glück ist Herr Walach allein so laut, dass niemand auch nur ansatzweise auf die Idee kommt, müde zu werden. Er produziert auf beeindruckende Weise bluesig anmutende Klänge, indem er gegen seine Gitarre tippt, trommelt oder virtuos die Saiten zupft und auch seine Füße kommen nicht zu kurz. Diese sind eifrig damit beschäftigt, dass aus dem Müll geklaute Lasagnebackofenblechdingsbums mit einer schweren Eisenkette zu treten. Die klingenden Saiten, das Scheppern und Krachen und der tolle Gesang werden von gelegentlichen Ansagen unterbrochen, die dem Zuhörer erklären, warum welcher Song geschrieben wurde. Daraus kann der Konzertbesucher letztendlich nur eine logische Konsequenz ziehen: „Pass auf, was du in der Nähe von MarKuz Walach machst, der schreibt wirklich über alles `nen Song.“.
Szenenwechsel aus dem gemütlichen Café in den düsteren, mittlerweile deutlich besser gefüllten Bunker. Das Berliner Duo von Alphatrip ist an der Reihe und versetzt den Zuhörer mit psychedelischen Postrockklängen in Trance. Nur mit Gitarre und Schlagzeug bewaffnet schaffen sie es, eine Wand auf Klängen zu erzeugen, die sich anhört, wie ein von Jim Morrison beschriebener Meskalintrip in der Wüste. Es gibt keine wirklichen Pausen, die beiden Musiker spielen und spielen und kommunizieren untereinander mit ihren Blicken. Ist das jetzt ein langer Song oder viele kürzere? Man weiß es nicht und eigentlich ist es auch egal. Es klingt gut. Man verweilt, schließt die Augen und lauscht, bis es irgendwann still wird.
Zurück ins Café. Arne Heesch und Yvonne Ducksworth von Treedeon stecken noch mitten im Soundcheck. Die gebürtige Kanadierin gibt mit ihrem charmanten Akzent eine Anweisung nach der Nächsten, aber so richtig perfekt will es einfach nicht werden. Das wartende Publikum lässt sie geduldig machen und schiebt diverse Sofas und Sitzgelegenheiten in Richtung Bühne. Das wird eine gemütliche Show. Als die beiden Musiker endlich bereit sind und ihr Set starten, hat sich der kleine Saal erstaunlich gut gefüllt. In harmonischen und wunderschönen Gesangsduetten bestreiten die Beiden den Abend. Zwischen den Songs erzählt Yvonne von Sorgen und Ängsten beruhend auf der aktuellen Weltsituation. Kriege, der Machtantritt von Trump und andere Dinge gehen ihr nahe, umso schöner klingt ihre Flucht in die Musik. So besinnlich kennt man Treedeon gar nicht, leise statt laut. Und so verhält sich auch das Publikum, leise lauschend.
Aus dem warmen Café geht es zurück in den Bunker. Die letzte Band des Abends steht an: Rising. Ein Bandname den man auf Grund seiner Einfachheit leicht vergisst. „Wie hießen die gleich?“, würde an dem Abend noch öfter gefragt werden. Die Dänen von Rising kommen mit fünf Leuten daher und legen direkt mit voller Lautstärke los. Vielversprechend, denkt man. Leider sind nur die ersten 10 Minuten spannend. Rising machen melodischen Metal und klingen wie…irgendwas, dass man woanders schon mal gehört hat. Leider. An Technik und Können der Musiker kann man nichts bemängeln, allerdings ist das Gesamtwerk austauschbar, unmotiviert und einseitig, die eigene, markante Note fehlt. Findet auch das Publikum und hält sich größtenteils zurück. Schade, für die letzte Show des musikalisch so vielfältigen Abends hat man sich etwas Außergewöhnlicheres gewünscht. Also ab nach Hause und die Ohren ausklingeln lassen, der Samstag verspricht noch einiges.
Samstag
Pünktlich um 17 Uhr versammeln sich die ersten Menschen im JAZ, was gar nicht nötig gewesen wäre, da sich die halbstündige Verspätung des Vortages weiter durch die Veranstaltung zieht. Das Verhältnis von Musikern zu „Normalsterblichen“ um Publikum beträgt etwa 50:50, Was zwar bedeutet, dass sehr, sehr viele Musiker vor Ort sind, aber relativ wenig Besucher. Zum Glück wird sich das im Laufe des Abends noch ändern.
Der Abend beginnt mit den in letzter Minute dazu gebuchten Pabst, eine Zeitreise in die 90er. Das junge Berliner Trio sorgt für lange nicht mehr dagewesene grungige Töne und sorgt mit einer Coverversion von „Ghetto Supastar“ für den Ohrwurm des Abends (bzw. der Woche, wie sich später herausstellen wird). Pabst beginnen den Abend so, wie die Band am Vortag hätte aufhören sollen. Erfrischend anders. Sie verbreiten sofort gute Laune und bringen Füße im Saal zum Wippen…vielleicht auch ein paar Köpfe.
Kreativ und anders geht es direkt im Bunker weiter. Deamon’s Child aus Hannover reißen die Bühne an sich und direkt als sie loslegen wird klar, dass es schwer wird, die drei Dämonenkinder in eine Schublade zu stecken.
Bassistin/Sängerin Ana Muhi muss Nenas verloren gegangener und ziemlich wütender Zwilling sein. Statt über Luftballons zu säuseln verlangt sie lauthals schreiend nach Lutschern, Zucker, Geld, Zeit und Äffchen – mehr Textfragmente erkennt man auf Grund der Klanggegebenheiten leider nicht, aber das macht nichts, die Gruppe fasziniert auch ohne große Worte. Düster donnernd dröhnt Muhis riesiger Bass durch den Raum, generell ist es laut und chaotisch, genau für solche Musik bietet das JAZ den perfekten Raum. Muhi brüllt sich die Stimme kaputt, welche sich zum Glück ganz easy durch Sternburgbier reparieren lässt – solche Geheimmittel werden in Familienrezepten leider nie überliefert. Aber bei einer kaputten Stimme bleibt es nicht, Schlagzeuger Tim Mohr zerlegt im letzten Song noch Snare und Fußpedal, wodurch der Gig ein sehr abruptes Ende findet. Bilderbuch Rock’n’Roll.
Anschließend wird es besinnlicher, es geht rüber ins Café zum wunderbaren Conny Ochs, der schon vor dem Auftritt von Deamon’s Child schwer mit seinem Soundcheck beschäftigt war. Das Café ist mittlerweile gerammelt voll, ein gemischter Haufen aus Jung und Alt wartet auf den Konzertbeginn. Der Singer/Songwriter aus Halle konnte sich bereits in den vergangenen Jahren mit seinen folkigen Klängen in die Herzen der Hanseaten spielen und das spürt man. Die Atmosphäre im Raum unterscheidet sich deutlich zu den vorangegangenen Konzerten. Es ist so leise, dass Conny sich bereits nach dem ersten Song entschließt auf den langen Soundcheck zu sch***en und einfach ohne alles zu spielen. Also ohne alles Elektrische. Und ohne Bühne. Was für eine fantastische Entscheidung. Mit seiner Gitarre stellt er sich in den Zuschauerraum und spielt, was ihm in den Sinn kommt. Er singt mal laut, mal flüsternd leise. Spielt Songs seiner letzten Platten, wie „Killer“, „Slide“ und „Star“, er huldigt dem kürzlich verstorbenen Leonhard Cohen mit einem bewegenden Cover von „Bird on a wire“ und gibt mit „Vultures by the vines“ auch einen Titel der „Heavy Kingdom“ Platte, welche zusammen mit Scott „Wino“ Weinrich entstand, zum Besten. Das Publikum sieht einen Künstler, welcher für und mit seiner Musik lebt und das spürt es. Nachdem Conny Ochs sein Set mit „Good House“ beendet, hört man selbst gestandene Kerle sagen: „Man, das hat mich voll erwischt!“.
Und dann war‘s das auch schon mit der Stille. Im Bunker sind Raskolnikov an der Reihe. Was an Dostojewski oder billigen Vodka erinnert, entpuppt sich als dreiköpfige doomig, psychedelische, post-irgendwas-ige Truppe aus Rostock. (Das mit den Stilbeschreibungen wird auch immer schwieriger). Was für ein Schock nach der ruhigen Show zuvor. Rein Instrumental holen Raskolnikov mit treibendem Schlagzeug und lauten Gitarren alles an Lautsträke aus dem kleinen Laden, was geht. Das Publikum ist dezent angetan.
Es wird wieder leiser, zurück im Café freut man sich über den, in Rostock ebenfalls sehr beliebten, Kristian Harting. Mit Vollbart und blondem Wuschelkopf betritt der Däne schüchtern die Bühne und beginnt wie ein wirrer Professor an seinen Mikros, Kabeln und Fußpedalen rumzufummeln. Auch Harting kann man zur Kategorie „Ein-Man-Band“ zählen. Mit Echos und Loops und anderen magischen Tricks von denen die Autorin keine Ahnung hat, beginnt der Singer/Sonwriter/wirrer Professor klanggewaltige Songs in einer Form darzubieten, mit welcher selbst so einige 4-köpfige Bands noch Probleme haben könnten. Kristian zuzuhören ist spannend, immer irgendwie anders, aber jedes Mal ähnlich faszinierend. Er spielt Songs wie „Float“, „Ship of Fools“, „Cannibals“, „Walk with thor“„Temporary Rooms“ oder auch „Traveller“. In Letzterem heißt es „Your mind is traveling, to places so amazing“ und genau das löst Harting mit seinen Songs aus, sie sind magisch und tragen den Zuhörer an andere Orte. Mit charmanten Ansagen erzählt er auch über neue Songs die er spielt, teils in Rostock geschrieben, teils hörbar von Rostock inspiriert. So kriegt man das Publikum rum. Nicht umsonst gibt es am Ende so etwas wie Standing Ovations und Zugabe Rufe. Welche, Gott sei Dank, auch erhört werden. Mit „First Applause“ verabschiedet sich Harting von der Bühne, ist aber weiterhin, wie auch viele andere Künstler, den ganzen Abend im Publikum präsent.
Das war es auch mit den leisen Tönen im Café. Die letzten drei Gigs des Abends gibt es im Bunker zu hören. Den Anfang der Triologie machen Naevus, mit ordentlichem Doom Metal, der leicht an Black Sabbath erinnert. Solide spielen sie ihr Set von 10 Songs und weisen bei dem Titel „Naked“ noch einmal anerkennend auf Conny Ochs und sein Talent, beim allein Musizieren seelisch völlig blank zu ziehen, hin. Das Publikum völlig aus der Reserve zu locken schaffen sie leider nicht. Letztendlich verlassen sie ohne ein Wort die Bühne, das Publikum weiß nicht genau, ob das nun das Ende der Show sein soll und wartet wie eine Herde Schafe im Regen.
Eben dies versuchen Treedeon als nächstes. Und es gelingt. Haare werden geschüttelt, es wird getanzt, es wird laut und wütend. Und meine Güte, was für ein Unterschied zum Vorabend! Von Yvonnes zarter Stimme ist nichts mehr übrig. Genauso aggressiv wie sie auf ihren Glitzerbass einschlägt, brüllt sie auch gemeinsam mit Bandkollegen Arne ins Mikrofon. Es ist schwere Kost, die dem Gast an dieser Stelle serviert wird, doch er nimmt dankend an. Zwischenzeitlich versucht Yvonne Ansagen zu machen, die jedoch von dem Lärm ihrer Mitmusiker übertönt werden, aber es geht ja auch nicht um Gequatsche, sondern um Musik. Das wird an dieser Stelle schnell klar.
Letzte Show. Rotor, von vielen sehnlichst erwartet und bis in den Himmel gelobt, beenden den Abend. Und plötzlich, man weiß gar nicht wie es kam, ist auch der Bunker voll. Das Publikum feiert die Band vom ersten Song an, und das womit kaum noch jemand rechnete passiert tatsächlich: Es kommt Bewegung in die Masse. Es wird getanzt, geheadbangt, gemosht und was man sonst noch so körperlich auf Konzerten veranstalten kann. Rotor sind wirklich gut und reißen mit. Stoner-Rock in Kyuss-Manier erfüllt den Saal, laute Bässe, kein Gesang und vor allem kein SchnickSchnack. Ein denkbar würdiger Abschluss für diese außergewöhnliche Veranstaltung. Wobei, Abschluss? Nicht ganz.
Sonntag
Katerfrühstück. Naja…Katerbrunch. Um 13 Uhr lädt das JAZ noch einmal ganz Rostock „gratis“ zum Frühstück und einer Nachmittagsüberraschungsshow ins Café ein. Es riecht nach schalem Bier und kalten Zigaretten, die „Frühstücker“, eingeschlossen der Autorin, sehen nicht wirklich frisch aus. Aber man ist gespannt wer noch kommt. Während gegessen wird baut ein bärtiger Kerl allerhand Instrumente zusammen und geht. Ein paar Minuten später kommt ein bärtiger Kerl in den Raum und setzt sich auf die Bühne. Es könnte der gleiche sein, aber ein Zensurbalken verschleiert seine wahre Identität.
Mysteriös
Der super geheime Geheimmusiker entpuppt sich als The Outis Nemo One Man Band aus Rostock, zwar versucht er seine Herkunft mit nicht ganz akzentfreiem Englisch zu verdecken, aber Fischkopp bleibt Fischkopp, das erkennt man. Und er haut den verkaterten Gästen feinsten Blues und beste Unterhaltung um die Ohren, genau das Richtige, nach so einem Wochenende. Seine Songs sind sowas von nicht jugendfrei, dass auch die Selbstzensur plötzlich Sinn ergibt. So ziemlich jedem Song geht die Ankündigung „So, the next song is about fucking“ oder „once I wrote a really, really really, really, really great song about fucking“ voraus. Selbst dem harmlosen norddeutschen Volkslied „Dat du min Leevsten büst“ wirft er tiefste Versautheit vor und während er es in bluesiger Manier neu interpretiert, gesteht der Mecklenburger sich ein:“ Ja, stimmt. It’s about fucking“. TONOMB entpuppt sich als das uneheliche Kind von Tenacious D. und Helge Schneider und singt munter über Nekrophilie, Werwölfe und Bluetooth-Headsets. Es wird viel gelacht, auch wenn der Kopfschmerz vom Vorabend noch tief sitzt.
Eine gelungene Überraschung nach einem gelungenen Festival. Eine Wiederholung wäre, trotz geringer Besucherzahlen, durchaus wünschenswert. Das North auf Mainstream Festival hat auf jeden Fall die Chance eine große Nische zu füllen und sich in Rostock zu etablieren.
Galerien: