Mecklenburg-Vorpommern besticht vor allem durch seine wundervolle Natur. Die Ostsee, unzählige Seen und wilde Flusslandschaften, Wälder und grüne Hügel. Dennoch ist es ein beklemmendes Gefühl die A20 auf Höhe Wismar zu verlassen und ein 40-Seelen Dörfchen im tiefen Nordwest-Mecklenburg anzusteuern, denn in Jamel scheinen die Uhren anders zu ticken. Von einem zentralen Scheunendach weht prominent die Reichskriegsflagge, während altertümliche Wandbilder nationaldeutscher Bilderbuchfamilien Garagenwände schmücken. Unter der Leitung von Ex-NPD Mitglied Sven Krüger, u.a. verurteilt wegen unrechtmäßigen Waffenbesitzes, hat sich Jamel seit den 1990ern in ein Nazimusterdorf verwandelt.
Warum in Gottes Namen sollte man sich also als geistig gesunder Mensch, für den Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit keine Fremdwörter sind, an solch einen Ort begeben?
Um zu zeigen, dass es auch anders geht selbstverständlich. Das 2004 zugezogene Paar Lohmeyer setzt alles daran, auf die Missstände in Jamel hinzuweisen. Versuche der Neonazis, die Lohmeyers zu vertreiben blieben bis heute erfolglos und fanden 2015 bei einem Brandanschlag auf die Scheune des Pärchens ihren traurigen Höhepunkt, ein Mahnmal aus verkohlten Balken befindet sich noch heute auf dem Gelände. Seitdem erlangte das Festival Jamel rockt den Förster, welches die beiden seit nunmehr elf Jahren veranstalten, überregionale Bekanntheit. So spielten in den Vergangenen Jahren Bands wie Fettes Brot, Die Toten Hosen, Die Ärzte und Madsen auf dem Forsthof, um Birgit und Horst Lohmeyer zu unterstützen. Auch 2017 findet wieder das Jamel rockt den Förster Festival statt und ist bereits lange im Vorfeld ausverkauft, obwohl in diesem Jahr kein Line Up bekannt gegeben wurde.
Nach Erreichen des Parkplatzes mitten im Dorf fallen als erstes die Bewohner auf, welche hinter Gartenzäunen und Gruppen von Polizisten das geschehen in „Ihrem“ Dorf beobachten. Wendet Mensch sich von dieser unattraktiven Szenerie ab, erreicht dieser nach nur wenigen Schritten
ein grünes Paradies mitten in diesem braunen Fleckchen Erde.
Das Festival findet mitten im Garten der Lohmeyers statt. Verschlungene Wege führen durch Bäume und Sträucher. Zahlreiche Infostände sind am Wegesrand aufgebaut. Darunter Ver.di Jugend, kein Bock auf Nazis, DGB Nord, RAA-Regionalzentrum für demokratische Kultur Westmecklenburg, sowie die Theaterfabrik Bielefeld, der Schachclub Kaltenkirchen, Bücherverkaufsstände und Drogenaufklärungsprojekte. Das eigentliche Festivalgelände ist eine schöne große Wiese, auf welcher sich die ersten Festivalgäste bereits auf Decken in der Sonne aalen. Die Stimmung ist durchweg positiv. Bereits am Ortseingang wurden die Gäste von extrem gut gelaunten Helfern und Einweisern begrüßt, von Anspannung keine Spur, ein Zustand, der sich durch das gesamte Festival ziehen soll. Um den Schwarzhandel mit Tickets klein zu halten und den politischen Charakter des Festivals zu unterstreichen, werden die Bands 2017 erstmals bekannt gegeben, wenn sie die Bühne betreten.
Eröffnet wird der Tag mit einer kleinen Rede von Birgit und Horst Lohmeyer, über die Veranstaltung und Beweggründe und das Leben in Jamel. Anschließend bitten die Beiden den ersten Überraschungsgast des Abends auf die Bühne. Bela B. der Jamel rockt den Förster im vergangenen Jahr als
Das wohl wichtigste Festival Deutschlands
betitelte, übernimmt die Moderation an diesem Tag und lüftet das erste Mal den großen Vorhang. Hinter diesem zeigt sich pünktlich zu Veranstaltungsbeginn die Kultpunkband Zaunpfahl, welche bereits seit den 90er Jahren die Musiklandschaft Mecklenburgs aufmischt. Mit Songs wie „Lilo Meyer“ wird eine klare politische Richtung eingeschlagen. Das Publikum findet es gut, vor der Bühne herrscht Bewegung. Die Sonne scheint und die Nachbarn Nazis nebenan lauschen.
Nach Set-Ende wird der Vorhang wieder hochgezogen. Während der Umbaupause übernimmt das Theaterlabor Bielefeld die Regie und betreibt bitterernsten Wahlkampf für die imaginäre Politische Partei Deutschlands (PPD). Mit einlullenden und inhaltsleeren Originalzitaten sowie überzogenen Gesten unserer wirklichen Politiker bewaffnet indoktrinieren sie das Publikum, ob es nun will oder nicht und zeigen so manche absurde Facette aktueller Wahlkämpfe auf.
Als Bela B. erneut die Bühne betritt, verkündet er mit Goldroger einen eher unbekannten Interpreten. „Was folgt logischerweise auf Punkrock? Klar, Hip Hop! Aber keine Sorge, der ist echt gut.“ Mit Goldroger bekommen die Gäste jungen, intelligenten Rap fern ab von Bushido und Konsorten, serviert. Mit Zeilen wie
Ich häng mit keinen Leuten, wo Freiwild läuft – Niemals
, „Neidische Nazis raus“ und dem anstacheln zum Klauen der Reichskriegsflagge wird schnell klar, warum sich der kleine Kerl auf der richtigen Seite des Gartenzauns aufhält. Zusammen mit seinen Mitmusikern legt Goldroger einen überraschend guten Auftritt hin und dank seines fantastischen Gitarristen, der fast jeden Song in sphärische Klangwunder verwandelt, ist auch Hip Hop direkt nach Punkrock völlig Ok.
Der Vorhang verdunkelt erneut die Bühne. Die PPD setzt ihren erbitterten Wahlkampf fort, während sich der Gemeine Konzertbesucher am Atomkraftaufklärungsstand mit „weißer (Zucker)watte gegen braune Kacke“ versorgt. Natürlich steht bei solch einer Veranstaltung außer Frage, dass gegen Nazis gehandelt werden muss, aber Jamel rockt den Förster zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie so etwas friedlich geschehen kann. Statt auf direkten Konfrontationskurs mit den Nachbarn Nazis zu gehen, wird auf dem Gelände ganz sachlich über die Gefahren des Nationalsozialismus aufgeklärt. Abgesehen von gelegentlichen „Alerta! Alerta! Antifascista!“ Rufen werden die unnetten Nachbarn Nazis hinterm Zaun nur wenig provoziert und, das ist der einzige große Nachteil, auch noch mit viel zu guter Musik versorgt.
Denn bei den folgenden Musikern handelt es sich um niemand geringeren als Die unfassbaren Sterne. Während die Urgesteine der Hamburger Schule die Low-Fi Herzen des Durchschnittsbesuchers höher schlagen lassen, sorgen sie bei dem ein oder anderen jüngeren Hörer für verwirrte Gesichter. Mit tragenden, schweren uninteressiert und unmotiviert wirkenden Songs spalten sie die Gemüter des Publikums, bis es bei „Was hat dich bloß so ruiniert“ doch noch Klick macht bei der Jugend. Die sind das also!
Ganz unterschwellig macht sich jedoch eine ganz andere Textzeile in den Köpfen des jüngeren Publikums breit: „Wir sind nicht Tocotronic und wir sind auch nicht die Sterne…wir sind…Kraftklub mit K.“ BÄM! Als nächste Band geben sich doch tatsächlich die Jungs aus Chemnitz die Ehre und rütteln den Forsthof richtig wach. Die jungen Musiker von Kraftklub haben sich in den vergangenen Jahren zu gewaltigen Entertainern entwickelt und brauchen keine zwei Minuten, um das Publikum mitzureißen. Deutschsprachige Rock/Rapmusik schallt durch ganz Jamel und während sich die Gäste des Forsthofs die Seele aus dem Leib tanzen schmollt hinterm Zaun wahrscheinlich der ein oder andere Nachbar Nazis weil er nicht mitfeiern darf – zumindest bis zur Coverversion von „Schrei nach Liebe“, welche von jedem Besucher aus voller Kehle mitgesungen wird. Könnte man Nazis einfach an die Wand singen, hätte Jamel dies in diesem Moment sicher geschafft.
Und was soll da jetzt musikalisch noch kommen?
Es wird wild spekuliert. Broilers? Ärzte? Die Toten Hosen? Donots? WIZO? …um nur einige zu nennen.
Bela B. betritt noch ein letztes Mal an diesem Abend die Bühne, um eine Band anzukündigen, welche vor vielen vielen Jahren von Horst Lohmeyer aus seinem Proberaum geschmissen wurde, weil sie nie aufgeräumt hat. Heute dürfen sie in seinem sehr aufgeräumten Garten spielen. Slime. Die Helden des deutschen Punkrocks entern die Bühne, und drehen nochmal richtig auf, um den unnetten Nachbarn Nazis den schönen Sommerabend zu verderben. Gut so. Slime liefern eine Punkrockshow, die ihres gleichen sucht und bekunden zwischen den Liedern immer wieder Respekt für den Widerstand der Lohmeyers, welcher sich auch darin zeigt, dass sie, wie alle anderen Bands an diesem Wochenende, ohne Gage auftreten.
Somit geht ein gelungener erster Tag zu Ende und es geht zurück aus dem idyllischen Garten auf den Parkplatz, an dessen Ende es sich die mittlerweile zahlreich erschienenen Neonazis um ein Lagerfeuer versammelt, gemütlich gemacht haben. Auch der vorhandene Polizeischutz vermag es nicht, die Gänsehaut bei diesem Anblick zu verhindern.
Samstag.
Wieder geht es mit der Ungewissheit über die Künstler des Tages zurück nach Jamel. Das gleiche Bild. Die Reichskriegsflagge weht, die Nachbarn Nazis warten am Zaun. Schnell zurück in die Idylle des schönen Gartens. Dort schleichen bereits die ersten müden Festivalbesucher mit Kaffee bewaffnet durchs Gelände. Die PPD fährt noch einmal richtig auf und klärt alle jene, die das Projekt am Vortag noch nicht ganz verstanden haben, über ihr Vorhaben auf. Erneut eröffnen die Lohmeyers den Tag und bitten den heutigen Moderator Fatih Çevikkollu auf die Bühne. Der Schauspieler und Comedian wird das Publikum mit Teilen seines Programms in den Umbaupausen unterhalten, doch zuvor wird das Mikrofon an einen weiteren wichtigen Gast abgegeben. Ministerpräsidentin Manuela Schwesig erscheint im Storch Heinar T-Shirt auf der Bühne. Die SPD Politikerin und Schirmherrin des Festivals berichtet kurz, warum Veranstaltungen wie diese wichtig sind und spricht sich klar gegen die nationalsozialistischen Bewegungen in Mecklenburg Vorpommern aus, was mit reichlich Applaus gewürdigt wird.
Küsst die Faschisten da wo ihr sie trefft.
Der erste musikalische Betrag des Tages kommt von Schreng Schreng und La La. Die beiden Musiker schleichen sich still und heimlich vor den verschlossenen Vorhang, um das Publikum mit akustischem Punkrock zu beglücken. Mit viel Witz und Charme quasseln sich die beiden in die Gunst der Gäste, die sich noch nicht wirklich von ihren Sitzplätzen auf dem Rasen trennen können.
Auch die Botschaften sind klar und werden von der unverkennbaren Stimme Jörkk Mechenbiers über den Platz Getragen.
Freunde sind nur Freunde, wenn sie sich
kennen so wie du und ich
Das Geheimnis ist das Kennenlernen,
Aber lernen wollen viele nicht
Fremde bleiben, wenn für Dich
Nur die Angst und der Zweifel spricht
Weil du selbst nicht weißt, was du sagen sollst,
Sagst du jetzt besser nichts
Auf das Herrenduo folgt Frauenpower. Die beiden Mädels Schnipo Schranke übernehmen das Ruder und schocken das Müde Publikum mit ihren unschuldig wiedergegebenen Popsongs über Stalking, Vergewaltigung, Pisse und Cluburlaub, welche mit den schönsten Klaviermelodien unterlegt sind. Wer sie kennt weiß es zu schätzen, alle anderen lauschen starr, was die beiden harmlos aussehenden, mit Schlafanzügen bekleideten Frauen da eigentlich so von sich geben. Wach sind jetzt auf jeden Fall alle.
Zur Beruhigung der Gemüter gibt es mit Das Auge Gottes eine lokale Legende. Die Systemkritische NDW DDR-Band aus Schwerin hat sich 20 Jahre nach ihrer Trennung für einen Auftritt in Jamel erneut zusammengefunden. Von dieser langen Trennung ist jedoch nichts zu merken. Das Zusammenspiel funktioniert nahezu perfekt. Die Band weiß mit einem Mix aus Sprechgesang, Rock und Funk zu begeistern.
Wieder übernimmt Fatih Çevikkollu die Rolle des Alleinunterhalters und feuert einen satirischen Spruch nach dem anderen ab, die meisten hat man jedoch schon längst auf irgendwelchen Social Media- Kanälen gesehen. Es geht um Fremdenhass, Gleichberechtigung und Toleranz, jedoch gehen einige Witze nach hinten los und verursachen nur verdrehte Augen im Publikum. Lachen ist wichtig und auch in Satire steckt immer ein Fünkchen Wahrheit, aber das Programm Civikollus dringt nicht wirklich zum Publikum durch erntet die ein oder andere unangebrachte Bemerkung. Vielleicht wäre es an dieser Stelle sinnvoller gewesen, den Organisationen vor Ort die Möglichkeit zu geben, sich einmal auf der großen Bühne vorzustellen, um so auch die Leute die nur wegen der Musik gekommen sind, zu erreichen.
Aber es gibt ja auch noch die Musik. Zur großen Freude der Autorin finden sich Schrottgrenze auf der Bühne ein. Berechtigt, denn die Hamburger Band hat erst kürzlich ein Album rausgebracht, welches sich vornehmlich mit der Gleichberechtigung der LGBTIQ Szene beschäftigt. Während Alex Tsitsigias mit kompletten Gesichtmakeup die Bühne betritt, präsentiert sich Gitarrist Timo Sauer in einem schwarzen Paillettenotfit. Etwas Schminke und Glitzer würde auch den tristen Nachbarn Nazis von nebenan nicht schaden. Und genau darum geht es bei Schrottgrenze. Ums bunt sein, um Vielfalt und Akzeptanz, alles verpackt in eingängige Pop-Rock Songs. Auch ein kurzer Regenschauer hält die Menge, die das erste Mal so richtig in Bewegung gekommen ist, nicht vom Tanzen ab.
Nach Schrottgrenze bauen bereits die nächsten Legenden auf. Die Fehlfarben kommen, um ihren selbsternannten Job als Lückenfüller anzutreten und für eine verhinderte Band (deren Namen wir nicht erfahren) einspringen. „Wir sind Lückenfüller par excellence und wir Laden heute alle Lücken ein gefüllt zu werden“. Punk, Ska, NDW, die Genre verschmelzen. „Monarchie und Alltag“ ist sicherlich jedem ein Begriff.
Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran!
Mit den geheimen Headlinern. Groß ist der Jubel, als der Vorhang fällt und sich dahinter die Beatsteaks verbergen. „Wir durften schon auf vielen Festivals spielen in unserer kleinen Karriere….aber das hier ist das schönste, das wichtigste und das Beste.“ Und ab geht’s. Die Beatsteaks, Partygarant seit spätestens 2002, bringen den Forsthof zum Beben. Nicht umsonst geht ihnen der Ruf als einer der besten Live-Bands Deutschlands voraus und das klappt. Es Reihen sich Hit an Hit. Es wird gesprungen, getanzt, gelacht gesungen. Sänger Armin wird einmal per Crowdsurfexpress zum Bierwagen und zurück befördert. Bei all der guten Laune kann man schonmal die ollen Nacharn Nazis nebenan vergessen. Zumindest, bis die Band zum Ende ein Cover anstimmt, welches sich mit einem großen Augenzwinkern direkt an die Herren hinterm Zaun richtet.
I want to break free
Und mit diesem Ohrwurm wird es Zeit, das erlebte noch einmal Revue passieren zu lassen. Mit Jamel rockt den Förster haben die Lohmeyers eine friedliche Oase inmitten eines Dorfes geschaffen, dass es heutzutage in dieser Form nicht mehr geben darf. Die Bands geheim zu halten, war eine tolle Entscheidung, denn wer wird nicht gerne überrascht? Natürlich ist es schwieriger für eine Band aufzutreten, wenn das Publikum nicht explizit wegen ihnen gekommen ist, aber alle Künstler haben diese Herausforderung mit Bravour gemeistert. Und nicht nur die Künstler sind an diesem Wochenende ohne Gage aufgetreten, viele freiwillige Helfer haben einen reibungslosen Ablauf ermöglicht, angefangen von Ordnern und Securities bis hin zu den Licht und Tonmenschen, welche am Rande bemerkt, einen ganz fantastischen Job geleistet haben. Und, entgegen der gängigen Meinung der ein oder anderen Punkband, verdienen auch die Polizisten, welche an diesem Wochenende für die allgemeine Sicherheit sorgten, an dieser Stelle ein großes
Dankeschön.
Galerien (by Thea Drexhage bs! 2017):
- Atmo [32]
- Beatsteaks [37]
- Das Auge Gottes [20]
- Fehlfarben [26]
- Goldroger [25]
- Kraftklub [40]
- Moderation [31]
- Schnipo Schranke [25]
- Schreng Schreng & La La [16]
- Schrottgrenze [38]
- Slime [22]
- Die Sterne [25]
- Zaunpfahl [30]
Links:
www.forstrock.de