Scheeßel ist ja mittlerweile notorisch für sein „interessantes“ Hurricane-Wetter bekannt und hat es auch in diesem Jahr wieder so spannend gemacht, dass man als Besucher*in nicht so recht zwischen Gummistiefel und leichter Sandale entscheiden konnte.
Der Freitag,
der mit einem wirklich genialen Line-Up, zumindest wenn es nach uns geht, aufgewartet hat, war von Beginn an bedrohlich grau. Vielleicht lag’s an der britischen Invasion auf den Bühnen. Sollen sich ja schließlich alle wie zuhause fühlen. Den Beginn machten The Reytons – eine komplett unabhängige Self-Made-Band – wie sie selbst mehrmals erwähnten. Der „bandgewordene Song 2“ war auch eine ganz gute, runde Nummer, die auf den Rest des Tages ordentlich einstimmen konnte. Auf diese folgten niemand geringeres als Frank Carter & The Rattlesnakes. Ein Garant für eine unvergessliche Show, lässt es sich der gute Frank doch nie nehmen, die meiste Zeit einfach direkt bei seinen Fans im Pit zu verbringen – female only Circle-Pit included. Wer Bock hat, kann danach seinen IQ bei Ski Aggu wieder etwas runterfahren – für die allgemeine Stimmung auf dem Festivalground ‘ne super Sache, passt aber irgendwie nicht so recht ins restliche Hauptprogramm an diesem Tag.
Wir warten stattdessen auf The Gaslight Anthem, da diese aus dem beschaulichen New Jersey und nicht aus England kommen, hellt sich auch der Himmel für einen Moment auf. Brian Fallon und Band beginnen ihr Set direkt mit 45 – sie sind wieder da. Solide Performance inkl. Cover von Billie Eilish‘ Ocean Eyes und natürlich einigen Songs des jüngsten Albums History Books. Leider überschneidet sich das Set mit dem der irischen Fontaines D.C. – vor zwei Jahren noch im Zelt nun auf der River Stage um ca. 18 Uhr. Im Gepäck ein paar neue Songs wie das melancholische Favourite und Romance vom gleichnamigen, im August erscheinenden Album. Die Musik lädt nicht zwingend zur wilden Party ein, trotzdem hängt man wie gebannt ein Grian Chattens Lippen. Es ist eine wahnsinnige Qualität, die dort geboten wird. Und natürlich zieht sich nun auch der Himmel wieder zu. Und wird während der Show von Idles, mittlerweile Dauergäste auf dem Festival, zunehmend bedrohlicher. Bis zum Wolkenbruch. Gezwungen das Set kurz zu pausieren, um die Bühnentechnik zu schützen, raunt Joe Talbot bockig
I thought this is a fucking festival
ins Mikrofon und steht die Pause ungeduldig durch. Wie ein Tiger im Käfig stampft er auf der Bühne von links nach rechts und brüllt seine teils wütenden, teils romantischen Songtexte ins Mikro während der Rest der Band energiegeladen wie immer für eine gute Show sorgt. Aber wirklich nur gut. Idles, die in den letzten Jahren viele Alben veröffentlichten und scheinbar endlos tourten, brauchen vielleicht mal eine kleine Pause, um ihren Spark wiederzufinden, dieser hat bei diesem Auftritt irgendwie gefehlt.
Das Infield dünnt sich wetterbedingt etwas aus, trotzdem warten nebenan einige sehnsüchtig auf The Kooks – doch der Auftritt verzögert sich. Erst 20 Min, dann 40 Min, dann wird er abgesagt. Die Bühnentechnik fand das Wasser von oben nicht so gut.
The National kommen zwar nicht aus England, bringen aber die nötige Menge Melancholie mit, um auch im Regen zu brillieren. Matt Berninger sind die Wassertropfen auf seinem schicken Anzug egal – die Band spielt eine hervorragende Festivalsetlist und begrüßt die Gäste mit Sea Of Love. Wie immer singt sich Berninger schnell in Rage, interagiert mit allem, was die Bühne hergibt, und geht auch mehrmals mit der Menge auf Tuchfühlung. Während für ihn das Töne-Treffen eher optional ist, sorgen die Gebrüder Dessner und der Rest der Band für die nötige und wirklich herausragende Qualität – und genau dieser Kontrast macht doch schon immer den Charme der Band aus. Und dann waren auch die schlimmsten Wettereskapaden des Wochenendes vorbei (Sorry an die abgesoffenen Kolleg*innen beim Southside).
Hier endet für uns der erste Festivaltag, denn leider wird es immer mehr zum Standard, dass Headliner*innen Medienvertreter*innen entweder ganz ausschließen oder nur bestimmte Publikationen auswählen – Support ist allerdings keine Einbahnstraße, weshalb wir diese Acts in unserem Bericht außen vor lassen werden. Nichtsdestotrotz war der Festivalfreitag ein perfekter Einstieg, der mit seinem durchaus erwachsenen Line-Up vor allem jene bedient, die vielleicht schon ein paar Jahre länger beim Hurricane Festival dabei sind und auf wirklich gute, handgemachte Rockmusik stehen – dies beteuerten auch die Bands auf den Bühnen untereinander immer wieder. Ein Ohrenschmaus.
Samstag
Gibt es einen besseren Start in den Festivaltag als mit The Subways? Nicht wirklich. Das Trio macht, was es seit über 20 Jahren am besten kann: richtig guten, eingängigen Indie-Rock, der gerade beim deutschen Publikum schon immer großen Anklang gefunden hat. Kein Wunder also, dass sich vor der Bühne vor allem Millennials tummeln und sich zurückversetzen lassen in die unbeschwerten Indie-Disco-Zeiten. Hach.
Danach gilt es, sich zwischen Danko Jones und Team Scheiße zu entscheiden – und das machen wir an dieser Stelle aus rein logistischen Gründen. Die Mountain Stage mit Team Scheiße ist echt weit weg – so Danko Jones it is. Aber auch nur kurz, denn im Zelt laden The Last Dinner Party zum gehobenen Tanztee und bilden vor allem für die jüngeren Festivalgäste endlich ein absolutes Highlight. Zu Recht. Die Show der Engländer*innen ist fantastisch. Dramatisch in rotes Licht gehüllt überlassen sie bei ihrem barocken Art Rock keinen Ton, keine dramatische Geste dem Zufall.
Die Millennials können im Anschluss wieder bei Simple Plan in Erinnerungen schwelgen bevor mit Bombay Bicycle Club etwas geboten wird, das vielleicht alle vereint. Mit ihrer guten Laune und positiven Show schaffen es die Londoner sogar, kurz die Sonne rauszulocken. Mit den Leoniden und Fatoni streiten sich wieder ein paar gute Typen um die Gunst der Menge – aber so eine Leoniden Show kann man einfach nicht auslassen. Wie die Band aus Kiel es immer wieder schafft, so große Mengen in Bewegung zu versetzen, ist einfach toll anzuschauen. Natürlich haben sie, neben ihren starken eigenen Nummern auch den Sommerhit des Jahres im Gepäck.
Pyroteeeeeechniiiiiiik
… ihr wisst schon. Nebenan beginnt Tom Odell bereits, seine traurigen Songs zu singen – doch von den Leoniden kann man sich nur schwer losreißen, daher nutzen wir die verpasste Tom Odell Show, um die weite Wanderung zur roten Bühne zu Paula Hartmann auf uns zu nehmen. Eine gute Entscheidung, denn es dauert schon eine Weile, sich durch die Menge zu quetschen, die plötzlich zur Mountain Stage stürmt und für ein richtiges Gedränge sorgt. Auch Hartmann selbst traut ihren Augen nicht, als sie das Menschenmeer vor sich sieht, und ist den Tränen nah. Eine gute Show mit Songs, die vor allem bei jüngeren Menschen genau ins Schwarze treffen – wenn das so weiter geht, ist die Main Stage für das nächste Jahr schon in greifbarer Nähe.
Stilbruch.
Es geht zu Turnstile. Die Menge vor der Forest Stage ist plötzlich eine gänzlich andere. Shorts, weiße Turnschuhe, schwarze Bandshirts und unendlich viele Tattoos – wo haben die sich denn vorher alle versteckt? Die Band aus Baltimore USA feierte jüngst mit ihrem Album Glow On einen dicken Erfolg in der (Post-) Hardcore Szene und liefert eine extrem fette Show. Sänger Brandon Yates lässt es sich zwischen den Songs nicht nehmen, jedem Menschen in der ersten Reihe persönlich die Hand zu schütteln. So höflich! Höflich bleibt auch das Moshpit, wenn auch etwas härter als bei den restlichen Auftritten an diesem Wochenende. Dicke Gitarrenwände und unbändige, positive Energie machen diesen Auftritt zu einem absoluten Festivalhighlight!
Und dann kommt das scheinbar Undenkbare. Eine Headlinerin! Avril Lavigne! Ja, genau die. Mit genau den Hits. Mit allen Hits. Sie spielt ein Best Of Set auf einer quitschig pinken Bühne im Pop-Punk-Look der 2000er Jahre. Die Fans sind textsicher. Die Stimmung hervorragend, auch, wenn einer Frau Lavigne ein bisschen der Elan zu fehlen scheint. Dennoch ein gelungener Abschluss für den Festivalsamstag, wenn man sich entschließt, auf den anschließenden Hip-Hop von K.I.Z. und Sido, der ein paar ziemlich schiefe Ansagen auch im Bezug auf Avril Lavigne von sich gegeben haben soll, zu verzichten.
Sonntag
Wer bis zum letzten Festivaltag durchhält, wird mit strahlendem Sonnenschein und herrlich buntem Line-Up belohnt. Singer-/Songwriterin Bess Atwell eröffnet um 12 Uhr die Mountain Stage – ein schwieriger Slot auf einer schwierigen Bühne, doch zum Glück kommen nach und nach ein paar Musikkenner*innen vorbei und genießen diesen herrlich ruhigen Sound zu Tagesbeginn, bevor es bei The Mysterines auf der River Stage deutlich rockig-rotziger wird. Richtig rotzig ist dann Deine Cousine zurück auf der Mountain Stage, die den Platz gut voll macht. Gute Energie, gute Attitüde, die richtige, politische Einstellung. Gerade solche Auftritte muss es auf so riesigen Festivals immer mehr geben. FCK AFD.
Gar nicht so weit von dieser Rotzigkeit entfernt ist auch Paula Carolina auf der River Stage, die es sich nicht nehmen lässt, ein kurzes Cover von Schrei nach Liebe einzuwerfen und natürlich besonders beim jungen TikTok-Publikum Anklang findet. Für die in die Jahre gekommenen Punks stehen Adam Angst auf der Mountain Stage bereit, doch wir entscheiden uns schweren Herzens für einen Abstecher zu High Vis. Die Songs sind aggressiv und laut, irgendwo zwischen Indie und Hardcore. Die Ansagen dazwischen eher leise und humble. High Vis haben Bock, Musik zu machen und zeigen sich mehr als dankbar für jeden Gast, der gekommen ist, um sich das anzuschauen.
Vor der River Stage sammeln sich indessen die müden, die älteren, jene, die gern an ihre Gruftijahre zurückdenken. Denn die Editors spielen. Und wie die spielen. Vielleicht waren die letzten elektronischen Alben nicht für jede*n, aber live bleibt die Band ein wahres Erlebnis. Mit einer angenehmen Best-Of Setlist spielen die Briten um den lächerlich charismatischen Tom Smith bei strahlendem Sonnenschein ein einstündiges Set und zeigen, dass sie längst nicht zum alten Eisen gehören, obwohl sie mittlerweile auf einen 14 Uhr Slot gesteckt wurden und während sie sich mit dem elektronischen Papillon verabschieden, geht es auf der Mountain Stage ebenso elektronisch weiter.
Dort motzen Grossstadtgeflüster ihre Texte mit Berliner Schnauze ins Mikrofon und wirbeln ordentlich Staub auf, denn mittlerweile ist es so heiß, dass auch der schöne Scheeßelstaub sein Comeback feiert. Schön! Aber der Besuch hier bleibt nur kurz, denn nebenan bereiten sich Roy Bianco und die Abbrunzati Boys darauf vor, den Schlagerstrudel ins Rollen zu bringen. Es wird voll vor der River Stage, und warm und liebevoll. Fremde und Freunde liegen sich in den Armen und feiern die Amore. 1+ mit Sternchen für diese Show. Man mag von der Musik halten, was man will, aber diese Stimmung bleibt am gesamten Festivalwochenende einmalig.
Um die Ohren von dem gerade gehörten freizupusten, kann man im Anschluss bei Sum 41 vorbeischauen, die sich aktuell auf Abschiedstournee befinden. Kaum nachvollziehbar, klingen sie live noch immer hervorragend, aber sie leben wohl das Motto aufzuhören, wenn es am schönsten ist. Pyro, Punkrock, Pogo – die Band lässt keine Wünsche offen.Entspannter läuft es im Anschluss bei Giant Rooks die den Platz vor der River Stage vollmachen. Wann sind die eigentlich so groß geworden? Die Performance der Band ist, wie eigentlich immer, fehlerfrei, erwachsen und mitreißend. Könnte man langweilig finden, aber gerade die jungen Mädels in der Menge würden dem wohl widersprechen.
So langsam kommt auch die Festivalmelancholie auf und man weiß, dass ein gutes Wochenende zu Ende geht. Dafür bieten Giant Rooks auf jeden Fall den richtigen Soundtrack, bevor man von Deichkind noch einmal wachgerüttelt wird.
Schluss mit Remmidemmi, das hört jetzt hier sofort auf
Ey, Leute, aus dem Alter ist man doch mal langsam raus
Nix da. Auch, wenn Deichkind mittlerweile zu einer der politischsten Bands des Festivals gehört (Wann genau ist DAS passiert?) kommt die Party bei den Hamburgern nicht zu kurz. Die Show ist wie immer perfekt durchchoreografiert, die Kostüme und das Set wechseln sich öfter, als die meisten Festivalbesucher ihre Schlüpfer – das ist einfach rundum eine gute Nummer und es ist auch egal, wie oft man das Anarchobühnengewimmel bei Remmidemmi schon gesehen hat – ohne geschwitzt und gefedert zu werden geht hier absolut niemand nach Haus. Danke Deichkind, für diesen Abschluss.
Und das war es für uns, das Hurricane. Ein Festival, das sich Mühe gibt, immer mehr richtig zu machen. So langsam werden Flinta* auf den Bühnen sichtbarer, bekommen auch spätere Slots und müssen nicht nur im Zelt spielen, das ist sehr schön und wird sich hoffentlich in den nächsten Jahren noch steigern. Ein, zwei fragwürdige Typen waren wieder auf den Bühnen unterwegs, aber die konnte man immerhin gut umgehen. Das Line-Up insgesamt fühlte sich mit seinem sehr hohen Anteil an Rock- und Alternative Music wieder mehr nach zurück zu den Wurzeln an – gleichzeitig wird aber auch genug für die jüngere Generation geboten und aktuelle Trends berücksichtigt, ohne dabei Überhand zu nehmen. Das Hurricane versucht, alte Fans zu behalten und neue zu gewinnen und das mit einer sehr guten Balance. Das Festivalgelände in diesem Jahr wirkte dazu offener. Weniger Sponsoren, die mit Festival eigentlich so gar nix am Hut haben und die nur da sind, um ihre Plastikwerbegeschenke zu verteilen, weniger Buden für Konsum, dafür ein großes kulinarisches Angebot, das man sich allerdings auch leisten können muss – Handbrot 8 Euro – echt jetzt? Dennoch gab es keine Gastropreise-sind-doch-ein-Verbrechen-Revolte und es wurde munter gemampft. Das Publikum war wunderbar nett und ausgeglichen und auch lästige Alkoholeskapaden und Kerle, die sich nicht benehmen können, konnte man zumindest auf dem Infield zunehmend weniger beobachten. Das sind doch gute Prognosen für 2025!
Und jetzt Bock? Der Vorverkauf für das nächste Jahr ist bereits hier gestartet.
Galerien (by Thea Drexhage bs! 2024)
Links:
Hurricane Festival
Veranstalter:
FKP Scorpio