Start Events Festivalberichte Review: Wave Gotik Treffen 2011– Donnerstag 09. Juni 2011

Review: Wave Gotik Treffen 2011– Donnerstag 09. Juni 2011

Feiner Nebel wabert über kühlem Grab. Der fahle Schimmer der Kerzen flackert in der mondklaren Nacht. Auf dem Boden winden sich zwei blasse Körper im Liebesschmerz. „Beiß mich“, haucht eine zitternde Stimme, sich verzehrend nach Unsterblichkeit – dem ewigen Leben. Dann ein Biss, ein leiser Seufzer. Tiefrotes Blut rinnt die Kehle hinab. Es ist vollbracht! Das Klischee erfüllt.

Was sich liest wie eine untote Liebesschmonzette der Marke „Mitlight zum 5 Uhr Tee“ entspricht  in etwa dem vorherrschenden Bild welches die Allgemeinheit im Jahre 1992 von der Gothicszene zu haben glaubte. Mitternächtliche Grabsteinknutscher, Meerschweinchenkiller, Satanisten, der Irrglauben und Vorurteile über die Schwarze Szene gab und gibt es immernoch viele. Daran konnte selbst uns Rolf Zuckowski der düsteren Herzen, alias Graf Unheilig, nur teilweise etwas ändern. Entfremdet durch die Bügeleisenfraktion gerne finsterer Hausmütterchen und jener gutbürgerlichen Doppelhaushälftenbewohner, die sich mit Happy Gothic auch mal so richtig evil fühlen wollen, hat sich die so-called Szene längst neue Helden gesucht.

Denn die Wave Gotik Szene bietet so viel mehr. Und wer sich einmal Tiefer mit ihr auseinander  setzte musste erkennen, dass vieles, was von der Oberfläche in das normale Leben schimmert, nur die Spitze eines bodenlos tiefen Eisbergs ist, dessen Facetten nicht mal die Altvorderen der Szene in vollem Umfang zu erfassen vermögen oder im Schlund des letzten Absinthrausches vergessen haben.

An dieser Stelle tritt in schöner Regelmäßigkeit das Wave Gotik Treffen in Leipzig auf den Plan, um alljährlich zu Pfingsten die schwarz tragende Kultur in all ihren Facetten zu feiern und zu belegen, dass „Grufties“ eben nicht die Mantra murmelnden Hamstermörder sind, sondern sich durchaus von anderen Dingen ernähren. Der Körper gerne auch mal ohne Fleisch, die Seele von einer Kultur, wie es sie vielschichtiger nirgendwo anders zu erleben gibt als in Leipzig.

Als die Erfinder des Wave Gotik Treffens 1992 im Leipziger Eiskeller (heute Conne Island) erstmals an den Start gingen, ahnten sie womöglich noch nicht, welchen Kult sie damit auslösen würden. Rund 1500 Besucher, so erzählt man sich, „trafen“ sich seinerzeit auf der Premiere. Heute – 20 Jahre später – pilgern weit mehr als 20.000 Besucher zu einem Event, das in Form und Umfang europaweit einzigartig ist. Über das gesamte Stadtgebiet verteilt hatten sich für das WGT 2011 weit über 200 Künstler aus aller Welt angekündigt. Eine Urgewalt, die neben dem Organisationstalent des Veranstalter, auch den Besuchern ein enormes Durchhaltevermögen abfordert. Ein 5 Tages-Event ist eben kein Pappenstiel.

In seiner 20jährigen Geschichte hatte das WGT viele Highlights aber auch seine Schlagseiten zu überstehen. Allen voran das Jahr 2000 das als Chaos-WGT in die Geschichte einging. Vollkommen überbucht mit zahllosen Acts stand der Veranstalter seinerzeit vor dem finanziellen Kollaps. Auch wenn es für die betroffenen selbst eine schwarze Stunde gewesen sein mochte, so erzählen sich Fans und Künstler heute noch die heißesten Anekdoten über Konzerte bei denen Besucher als Ordnungspersonal einsprangen und Musiker die unter Gagenverzicht trotzdem auftraten.

Auch 2007 – entpuppte sich als schwieriges Jahr, als das WGT unmittelbar in den Fokus der Antifa geriet und es zu Ausschreitungen kam. Zugegeben, einige uniformierte Besucher rangierten in der Vergangenheit mit ihren Outfits, wissentlich oder auch nicht, schon ein wenig am Rande der Legalität. Letztlich musste aber auch die extreme Linke zugeben überreagiert zu haben. Schließlich sind 20 Jahre Wave Gotik Treffen immer noch 20 Jahre Jugendkultur der düsteren Art und nicht die jährliche Inszenierung des Reichsparteitags – Punkt! So endete das damalige Treffen, trotz des imposanten Beginns mit der Inszenierung MONUMENTUM II am Völkerschlachtdenkmal unfreiwillig mit einem Bösen erwachen.

Dabei schreibt das WGT so viele schöne Geschichten, wie die des exzentrischen Strassenmusikanten „Noctulus“, der seit 1992 jedes Jahr dabei war und als nächtlicher Ruhestörer die Zeltplatzgemeinde manches Mal in den Wahnsinn trieb. Doch seine satirischen Beiträge von der rasierten Königin machten ihn zur Kultfigur. Und so kam es, dass Noctulus auf seinem 18. Treffen schließlich seinen großen Auftritt vor tausenden Fans auf der Agra-Hauptbühne bekam.

Das 20. Wave Gotik Treffen sollte heuer einmal mehr etwas besonderes werden. Dafür spendierten die Organisatoren dem Event schon am Donnerstag einen offiziellen Prolog. Anstelle des Eiskellers sollte jedoch das Agra Messegelände als Schauplatz einer illusteren Zeitreise in das Jahr 1992 dienen, bei der ausschließlich Künstler zu sehen sein sollten, die einst das Original Line-Up des ersten Treffens bestritten. Angesichts dieses Vorhabens hatten die Veranstalter tief in die musikalische Mottenkiste gegriffen und sich daran gemacht einige längst verblichene Formationen zu exhumieren. Während Das Ich und Oswald Henke – als die aktive Hälfte von Goethes Erben noch gerade so zur Allgemeinbildung zählen, The Eternal Afflict den meisten immerhin noch mit Ihrem Clubhit „San Diego“ ein Begriff sind, lichten sich bei Acts wie Sweet William oder Age of Heaven ganz schnell die Reihen jener, die sich noch Dumpf daran erinnern können. Selbst eine Band wie Love Like Blood wartet nun auch schon seit gut einem Jahrzehnt auf ihre letzte Ölung, die an diesem Abend mit einer großen „Farewell“-Show endlich vollzogen werden sollte. Man durfte also gespannt sein, wie sich der „Seniorentreff“ des 20 years-later Pakets auf der Bühne schlagen würde.

Nach dem Motto: „das Weh geht“ ja gut los, sorgten ausgerechnet die muntersten Akteure im Bunde, DAS ICH,am Mittwoch für nachdenkliche Schlagzeilen, denen zufolge Frontmann Stefan Ackermann nach einer Operation bereits seit 2 Wochen auf der Intensivstation liegt und nicht sichergestellt sei, dass er je wieder vollständig Genesen wird. Schlimme Nachrichten, die Bandkopf Bruno Kramm dazu veranlassten das geplante Konzert dennoch zu spielen und sich dabei von befreundeten Musikern wie Oswald Henke (Goethes Erben) und Myk Jung (The Fair Sex) unterstützen zu lassen. Obendrein wurde ein Buch ausgelegt, in dem die Fans Widmungen und Genesungswünsche für den erkrankten Stefan Ackermann hinterlassen konnten. Ob einem angesichts solcher Nachrichten bei Songs wie „Gottes Tod“, „Gelobtes Land“, „Re-Animat“ oder „Destillat“ zum feiern zumute war, musste schließlich jeder für sich selbst entscheiden.

HENKE spielt Goethes Erben

Mein Konzertabend WGT 2011 sollte nach einem kurzen Abstecher ins Pressezentrum jedoch erst mit HENKE und seiner exklusiven Goethes Erben Schau beginnen. Als erfahrenen WGT-Gänger fand ich zügig den Weg in die Agra-Halle 2, wo gerade der „Süße Wilhelm“ seine letzten Akkorde in die Saiten fummelte. Die mäßig gefüllte Halle deutete an, dass sich hier nicht unbedingt Aufregendes abgespielt haben musste. Das änderte sich jedoch schlagartig mit dem Erscheinen des Großmeisters der morbiden Wortakrobatik: Oswald Henke. Schon die Umbaupause vermochte eine gewisse Atmosphäre zu schaffen. Auf der gesamten Bühne hatte man riesige Kandelaber drapiert, deren Licht spendende Elemente nun mit zuckenden Bewegungen nach Sauerstoff gierten. Henke selbst ließ sich nicht lumpen und hatte eine komplette Band am Start. Von der letzten Goethes Besetzung war jedoch nur Violinistin Susanne Reinhardt übrig geblieben. Die übrigen Bandmitglieder waren allesamt neu besetzt, bzw. rekrutierten sich aus der Belegschaft von Oswald Henke´s Soloprojekt.

Der Meister selbst benötigte vor dreiviertel-besetztem Haus heute einige Songs Anlauf um richtig auf Touren zu kommen. Die Eröffnung „Keine Farben“ fiel daher noch etwas zögerlich aus. Doch schon bald begann sich Henkes ureigene Portion Wahnsinn Bahn zu brechen. Stechende Blicke, wirres Grinsen, schelmischer Schalk und die überaus abrupte Art von einem auf den anderen Moment komplett zu explodieren haben den Mann einzigartig gemacht. Und von dieser Präsenz gab es nun reichlich zu bestaunen. Bei „Märchenprinzen“ durfte sich allerdings erst mal Bassist Tom Bola die Krone aufsetzen. Mit wunderlicher Mine ertrug jener die etwas albern anmutende Kopfbedeckung, wohl wissend, dass im Bühnengraben geschätzte 40 Fotofragen darauf lauerten ihn genau damit größtmöglichst wie einen Horst aussehen zu lassen.

Für „Zinnsoldaten“ kruschtelte Oswald erneut in seiner Lieblingskiste herum und streifte sich ein Exerzierjäckchen über unter dem er betont lässig sein Mikrofon versteckte, als wolle er sagen: „das ist meins das kriegt ihr nicht“. Um theatralische Gesten selten verlegen scharwenzelte Henke beim Nachfolgenden „Die Form“ um einen der Kerzenständer herum und löschte mit den Fingern bedeutsam eine Flamme nach der anderen. In Abwesenheit von Mindy Kumbalek drückte Henke dem Konzert nun zunehmend seinen eigenen Stempel auf. Umschmeichelt von waberndem Nebel und dem sich kräuselnden Rauch erloschener Kerzen zog der Härtegrad nun merklich an und aus der stimmungsvollen Goethes Erben Werkschau wurde in zunehmendem Maße ein Rockkonzert, das sich letztlich nur noch unmerklich von Henkes Projekt Fetisch:Mensch unterscheiden ließ. Puristen mögen das anprangern, wäre der Anlass doch ideal gewesen einen Todeskunst-Klassiker wie „Wo Ist Iphigenie?!“ mit traditioneller  Klavierbegleitung darzubieten. Doch auch der moderne Weg hinterließ bei der „Brut“ vor der Bühne mit packenden Spätwerken wie „Nichts Bleibt Wie Es War“, „Himmelgrau“ oder „Mensch sein“ durchaus seine Spuren. Im Grunde genommen war die knappe Stunde für eine umfassende Retrospektive ohnehin viel zu knapp bemessen. Gab es doch noch wenigstens ein Dutzend Titel, die man mühelos noch in das Best-of Set hätte einbauen können. Schlecht war das Konzert dadurch noch lange nicht, kurzweilig allemal. was bleibt ist die Hoffnung Goethes Erben eines Tages vielleicht doch noch einmal wiedervereint auf der Bühne zu erleben. Vielleicht zum 25jährigen des WGT?! Wer weiß, wer weiß…

AGE OF HEAVEN

Was schreibt man eigentlich über eine Band, die seit 15 Jahren kein Album veröffentlicht hat und nicht „The Sisters Of Mercy“ heißt? Antwort: alles was man im Internet über sie findet 😉 und das ist im Falle von Age of Heaven nicht allzu viel. Die 1991 gegründete Leipziger Formation hatte 1992 die Ehre das allererste Wave Gotik Treffen zu eröffnen. Damals lediglich mit ihrem Demo „Heaven´s Tears“ bewaffnet, konnten die Lokalmatadoren am heutigen Abend immerhin aus dem Fundus zweier in den 90er entstandener Alben namens „The Garden Of Love“ und „Armageddon“ schöpfen. In der aktuellen Besetzung, unter anderem mit Gründer Jens-Uwe Helmstedt am Gesang, Keyboarderin Yvonne de Ray, Basser André Thiel und Torsten Sander an der Gitarre zelebrierten Age of Heaven den puren Old-School Kult.

Für eine Band die selten gemeinsam auf der Bühne steht funktionierte das auch ganz passabel. Zwar hatte sich, wenig verwunderlich, eine weitaus überschaubarere Besuchermenge vor die Bühne begeben als noch zuvor bei Henke, ganz uninteressant fand das Publikum die Darbietung dennoch nicht. Die Qualität der feilgebotenen Songs schwankte zwar ein wenig zwischen solidem Stiefel („Heaven“ / „The Garden Of Love“) und repetetiver Monotonie der eine zusätzliche Textzeile ganz gut getan hätte („Maschinen“). Der atmosphärische Bühnennebel, die durchweg ordentliche Gesangsleistung und Miss de Rays lasziver Schlafzimmerblick entschädigten jedoch allemal für den ein oder anderen Dropout. Alles in allem umschifften Age of Heaven die Klippe einer peinlichen Reunionshow recht souverän und erweckten den Eindruck dass sie durchaus noch etwas vorhaben in ihrem Metier.

Für den elektronischen Beitrag des Abends sorgten anschließend die Ruhrpott-EBMler von The Eternal Afflict, die ich vom Café des Vestibüls aus, aus dem Ohrenwinkel verfolgte. Letztlich lief bei der mit Videoprojektionen geschmückten Schau jedoch alles auf das Unvermeidliche hinaus: der Überhit San Diego wurde für den Schluss aufgehoben und zwischen den übrigen Titeln schwappte nur selten lautstarker Beifall herüber. Ein finales Urteil möchte ich mir hier nicht anmaßen, doch der Schein aus der Distanz kündete eher von mittelprächtiger Erbauung und dem warten auf Godot

LOVE LOKE BLOOD

Wie bereits einige Absätze zuvor beschrieben, hatten die schwäb´schen „Eysel“-bahner von Love Like Blood am heutigen Abend Großes vor. „Farewell“ wollten sie sagen, mit dem letzten Konzert ihrer Karriere? Haha, daran sind schon andere gescheitert. Die einen weil sie es total verrissen haben, die andere weil sie es doch nicht lassen konnten, und die nächsten weil sie am letzten Abend nochmal richtig Feuer gefangen haben.

Nach dem heutigen Auftritt würde ich Love Like Blood ebenfalls in die Kategorie der schwer Rückfall bedrohten Acts einsortieren. Dass sich Jungs aus „Geislingen an der Steige“ mit Gipfelbesteigungen auskennen war aufgrund der geographischen Lage durchaus nicht abwegig. Am heutigen Donnerstagabend sollten die Schwaben jedoch ausnahmslos alles an die Wand spielen! Als jemandem, der die aktive Phase von Love Like Blood bis dato nur aus Zeitungen und vagen Erzählen kannte, tat sich mir mit dem hier gebotenen Konzert eine musikalische Bildungslücke von biblischen Ausmaßen auf. Als langjähriger „Fields Of The Nephilim“ Fan, die mich Anno 2000, kurz nach meinem Eintritt in die Szene, direkt an der M´era Luna Bühne abgeholt hatten, stand ich heute während des Konzerts mit stetig wachsender Begeisterung vor der Bühne und staunte nicht schlecht, was das Gespann dort vom Leder zog!

Von wegen Flugrost! Für ihren letzten Ritt hatten sich Love Like Blood bestens vorbereitet und die von ihren Fans per Online Voting bestimmte Setliste akribisch einstudiert. Sänger Yorck (Jörg) Eysel wirkte alles andere als ein Musiker der 10 Jahre keine Bühne betreten hatte, sondern schritt beherzt zur Tat. Kraftvoll und düster schien er der übrigen Band die Spielfreude einzuimpfen. Oder um mal Dieter Hallervorden zu zitieren: „auf den Käpt´n kommt es an“. Begeistern konnte mich auch die breit instrumentierten Arrangements, die immer wieder mit zusätzlicher Akustikgitarre und weiblichem Gesang für ein volles Klangspektrum sorgten, welches für AGRA-Verhältnisse auf extrem hohem Niveau aus den Boxen schallte.

Da durfte man nur hoffen dass Carl McCoy und seine Reiter am Sonntag ähnlich leidenschaftlich zu Werke gehen und Glück mit dem Sound haben würden. Love Like Blood trugen unterdessen an diesem Abend mühelos den Pokal des Tagessiegers vom Platz und es würde mich nicht wundern wenn die 5 Herren und eine Dame nach diesem Volltreffer nicht doch wieder Blut geleckt haben. Never say die!!

ZURÜCK INS FUNKHAUS:

Nach diesem gelungenen Tagesabschluss machte ich mich auf den Weg zurück in heimische Gestade, um für die noch folgenden 4 Tage Kraft zu tanken. Der morgige Freitag würde für mich erneut im Zeichen der Agra Halle stehen, wo mit 18 Summers, Gothminister, Covenant und Deine Lakaien einige der Schwergewichte des diesjährigen WGT Programms warteten. Doch das ist eine andere Geschichte und die soll ein ander Mal erzählt werden.

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