University of California Press; Auflage: Revised ed.
September 1998
Taschenbuch (english)
428
https://www.amazon.de/West-Coast-Jazz-California-1945-1960/dp/0520217292
Stopp.
Hör sofort mit dem Lesen auf! Hier geht's um Jazz, Alter, das checkst du sowieso nicht. Ich mein's ernst. Weg, weg, weg! Keine drei Klicks weiter gibt's Katzenvideos, Helene Fischer oder Cumshot Compilations zu begaffen. (Ich schick dir mal 'nen Link, ne?) Aufhören! Hmm. Immer noch da? Wie penetrant. Aber okay. Dann gehörst du offenbar zur Zielgruppe für diese Kritik: Menschen, die sich nicht an Jazz rantrauen, es aber doch irgendwie wollen. Ich hätte da nämlich eine Buchempfehlung samt Tipps, um einen Einstieg in diese mit Namen, Daten und Subgenres überfrachtete Musik zu finden.
Full Disclosure: Ich bin alles andere als ein Jazzkenner sondern eher … interessierter Laie. (Und nur beim Jazz, oder Deutsch: Jatzmusik, hat man wohl das Gefühl, diesen Umstand überhaupt klarstellen zu müssen.) Mit Mitte 20 habe ich Jazzsinger wie Sammy Davis Jnr., Blossom Dearie oder Nina Simone für mich entdeckt. Damals bin ich von meinem Freundespack, allesamt Punk-, Metal- oder Alternativefans, genau wie ich, lang und schmutzig dafür ausgelacht worden. Allerdings nur so lange, bis Robbie Williams sein Jazzsinger-Album veröffentlicht hat, und alle Schlange standen, um sich meine CDs auszuleihen. Später habe ich in die Tiefe des Genres gehört und im Laufe der Zeit festgestellt, dass ich eher West Coast Jazz als Bebop mag. (Was mich unter manchen Jazzconnoiseuren übrigens postwendend zum Banausen degradiert, aber dazu später mehr.)
Was ist der Unterschied?
West Coast Jazz ist ein in den 40'er, 50'er Jahren enstandenes Subgenre des Cool Jazz, das, wie der Name schon sagt, seinen Ursprung an der amerikanischen Westküste hat (Duh!), und bei dem alles etwas entspannter angegangen wird. Im Vordergrund stehen, anders als im Bebop, weniger das Zurschaustellen technischer Fähigkeiten oder das Ausreizen des jeweiligen Instruments, sondern Melodien und Arrangements. Ganz vereinfacht?
Im Bebop beginnt ein Lied üblicherweise mit einem bekannten Arrangement, anschließend wird auf diesen Akkorden improvisiert, oft, ohne die eigentliche Melodie zu berücksichtigen, bevor die Musiker schließlich zum Arrangement zurückkehren. Beim West Coast Jazz hingegen steht das Arrangement als solches im Vordergrund; der Song. Außerdem wird nicht verschwitzt in höchsten Tönen gefiedelt sondern eher relaxed in den mittleren Lagen gespielt. Das Wesen des Jazz ist in beiden Fällen die Improvisation. MusikerInnen hören einander zu und reagieren aufeinander, denn:
Jazz kann man nicht alleine spielen.
(Wynton Marsalis)
Im Grunde genommen geht es beim Jazz um Kommunikation, und die wahren KönnerInnen sind diejenigen, die sich nicht Abend für Abend wiederholen, sondern neue Melodien suchen und dabei musikalische Wagnisse eingehen.
Außerdem ist West Coast Jazz ein von der Musikindustrie in die Welt gesetzter Begriff, um Platten zu verscherbeln; ähnlich wie Grunge. Nirvana, Soundgarden oder Alice in Chains mögen allesamt Grunge sein, aber musikalisch unterscheiden sie sich doch deutlich. Derselbe Schuh beim West Coast Jazz. Und wie beim Grunge haben auch JazzmusikerInnen nichts auf den Begriff gegeben sondern sich oft eher davon distanziert. Nicht zuletzt deshalb, weil der Sound von manchen vermeintlich wahren Jazzafficionados wegen seiner Zugänglichkeit belächelt wurde. Stichwort: Fahrstuhlmusik. Meine Banausenperspektive dazu?
Alles Schwachsinn.
Deswegen war ich schwer begeistert, dass Ted Gioia, einer der anerkanntesten Jazzkritiker und -historiker, ganz meiner Meinung ist.
In seinem Buch „West Coast Jazz“ räumt er unter anderem mit dem Vorurteil auf, das Genre und seine MusikerInnen wären dem Bebop musikalisch unterlegen. Anhand der Biografien prägender MusikerInnen skizziert er die Entstehung des Genres und beschreibt mit faszinierendem Sachverstand und Detailwissen ihre jeweiligen Besonderheiten. Wie es sich für einen Jazzkritiker gehört, hantiert er dabei mit zahllosen Daten, wodurch ich zum ersten Mal begriffen habe, weshalb Jazzfans so versessen darauf sind. Anhand dieser Daten von Aufnahmesessions wird einfach nachvollziehbar, welche MusikerInnen zu welchem Zeitpunkt zusammengespielt, sich dabei beeinflusst und die Idee Jazz weitergedacht haben.
Mitunter nimmt das Ganze bei Gioia allerdings komödiantische Formen an. Beispielsweise wenn er von Charlie „Bird“ Parkers drogengeschwängertem Aufenthalt an der Westküste berichtet, der ihn erst in den Knast und später in die Klappse brachte. Offenbar war lange unklar, wann genau Parker sich zurück nach New York verpieselt hat. Wichtige Frage. Logisch. Und Jazzdetective Gioia kennt selbstverständlich die Antwort, weil er den Brief eines Jazzmusikers aufgestöbert hat, in dem es heißt: „Bird is leaving here today“, dessen Poststempel vom 25. März 1947 stammt. Hätten wir das auch geklärt.
(Fun Fact am Rande: Charlie Parker hat in Los Angeles mal einen Pizzaessen-Wettbewerb gewonnen.
Sympathisch, der Mann.)
Darüberhinaus ist Ted Gioia in der Lage, Songs bis ins kleinste Detail auseinanderzudröseln. Zum Beispiel eine Liveaufnahme vom ersten Saxophonduell des Jazz: The Chase, von Wardell Gray und Dexter Gordon. (Muss man sich auch mal klar machen: Es gab ein erstes Saxophonduell.) Kostprobe gefällig?
[…] The audience responds with enthusiasm from the opening introduction – and Dexter takes advantage of this familiarity by starting his opening solo, as he did in 1947, with a variation on the melody. By the first bridge, however, he is moving into uncharted waters with a series of striking intervall leaps leading into two pulsating phrases based on a single note. Dexter takes three choruses, and Gray follos him with three of his own, each one more intricate than the last. Gordon comes back in by building off Gray's closing motive and soon has moved into the tenor's lowest register, evoking the sound of a baritone sax. When Gray's turn comes, he responds by mimicking Gordon's device – he now builds off Dexter's closing phrase and soon is answering his adversary with a stream of cascading notes. Dexter, in turn, storms back and quotes, among other things, „Bye bye Blackbird“ as well as one of Gray's own distinctive broken melodic figures.
This tenor battle continues at a feverish pitch, both players listening attentively to each other taking every opportunity to turn the opponents weapon to his own use. As the exchanges continue, they grow shorter and shorter while the audience grows louder and louder with screams and cheers. [...]
Holy. Shit. So aufregend ist das nämlich, BitchInnen! Genau deshalb ist West Coast Jazz die perfekte Einstiegsdroge: Man kann die Musik problemlos im Hintergrund laufen lassen, ohne dass sie nervt, aber sobald mensch wirklich hinhört offenbaren sich einem Welten.
Um den Jazz der 50'er Jahre zu begreifen, hilft es außerdem, sich auf eine Zeitreise zu begeben, indem man sich bewusst macht, was es damals noch nicht an musikalischen Genres gab. (Spoiler Alert: so gut wie nix.) Und viel verruchter als Jazzspelunke ging's im gutbürgerlichen Eisenhower-Amerika kaum; diese Schuppen waren mehr oder weniger das Pendant zur heutigen Punkrock-Kneipe. (Nur, dass es statt Mexikanern eben gerne mal Heroin gab.) Damalige Jazzer waren keine adretten Musikhochschulbubis, die von ihren Eltern im BMW zum Abschlusskonzert kutschiert wurden, um dann in Rentierpulli und mit sauberem Mittelscheitel auf den Notenständer zu glotzen, nee, ey, das waren mitunter komplett abgefuckte Chaoten, ständig auf der Suche nach Shore zum Ballern und kurz vor 'nem mentalen Zusammenbruch, die …1
Okay. Ich übertreibe. Aber ich will euch Kaputtnicks das Ganze ja auch schmackhaft machen. Natürlich waren das ausgebildete MusikerInnen und gerade im West Coast Jazz gab es viele bürgerliche Typen. Nichtsdestotrotz haben etliche von ihnen am Rande des Existenzminimums gelebt, weil sie speziell ab Ende der 50'er, als der Jazz an kommerzieller Bedeutung verlor, keine Engagements mehr bekamen. Aber egal, ob Spießer oder Junkie: Es ist tatsächlich aufregend, sich diese Musik und damit ein Verständnis ihrer Zeit zu erschließen. Schwöre!
Wer sich also schon immer mal an Jazz heranwagen wollte, aber nicht getraut hat, sollte deshalb West Coast Jazz eine Chance geben. Um es euch einfach zu machen, habe ich glatt mal eine Spotify-Playlist gebastelt. Und Ted Gioias Buch ist die ideale Leküre dazu.
Link:
www.amazon.de
Anmerkungen:
1 Unbedingt mal auf Bildersuche gehen. Chet Baker, Gerry Mulligan, Dave Brubeck, Shorty Rogers, Jimmy Giuffre, Wardell Gray und Dexter Gordon muss man mal gesehen haben. Lohnt.