Treibender Gitarren-Twang erfüllt das Knust, mit sittenstreng drapiertem rotem Hijab über goldbesticktem scheintransparentem Bellydancer-Hosenanzug betritt Liraz die Bühne, der hypnotische Tanz beginnt.
Langsam lockert sich ihr Schleier. Er wirkt wie ein von Kugeln durchsiebtes und in Blut getränktes Kopftuch. Noch bleibt er vor ihren Augen wie das festhängende Brett vorm Kopf. Durch den Schleier projiziert das Bühnenlicht die Schatten des Gitters in einer Gefängnistür in ihr Gesicht. Liraz hebt den Hijab immer weiter an und wirft ihn schließlich in wildem Mut nach hinten. Ein demonstrativer Akt der Befreiung. Langsam entwickelt sich ein lasziv-erotischer Schleiertanz einer freien selbstbewussten Frau voller Stolz. Einer Frau, die ihre Fesseln endlich abwerfen kann und selbst über sich bestimmt.
I wished for peace in the world
(aus Roya – My Fantasy)
But could not understand
Who is fighting whom
I will not lose my hope
You’ll see, our hearts will cross
My fantasy
Eine Allegorie auf den Kampf und das Martyrium der Frauen im Iran. Sie dürfen dort nicht tanzen, nicht singen, nicht Radfahren. nicht denken, glauben, lieben wen und was sie wollen. Haar und Körper per Gesetz mit Stoff versteckt. Seit dem Tod der jungen Jina Mahsa Amini im September 2022 brennt das Land. Die Frauen Irans demonstrieren unter Lebensgefahr gegen das Regime und für die Freiheit. So wird auch dieses Konzert zu einer Demonstration. Was gibt es schöneres und größeres, als dieses Ziel mit Leben zu erfüllen.
Liraz singt von verrückter Liebe und nächtlichen Kussbildern, der heilenden Kraft des Lachens und der Zusammengehörigkeit, eine Einladung zum Träumen. Hymnen, Liebesballaden, glitzernde nahöstliche Tanzmelodien Fröhliche und bittersüße traurige Texte zu ekstatischem persischem Synthie und Discoklängen im Sound der frühen 70er-Jahre vor der Revolution im Iran. In der Tradition iranischer Superstars wie Googoosh, der Gesang auf Farsi, doch die Band kommt aus Israel.
Liraz Charzi ist jüdische Israeli und Tochter iranischer Eltern. Eine in Israel sehr bekannte Schauspielerin und Sängerin, zb. aus der extrem sehenswerten und sehr intensiven Apple-TV Serie Teheran.
Liraz singt ihre Lieder auf Farsi, der Sprache des Iran. Ihre letzten beiden Platten Zan (deutsch „Frau“) von 2020 und die am 07. Oktober 2022 erschienene Roya (deutsch „meine Fantasie“) hat sie heimlich zusammen mit MusikerInnen aus dem Iran aufgenommen. Unter Lebensgefahr für sie. Bei Zan noch online, für die Aufnahmen zu Roya trafen sie sich endlich persönlich und heimlich in Istanbul.
Liraz berichtet, dass sie den letzten Song nicht mehr aufnehmen konnte, weil ihr vor Angst die Stimme versagte und sie keinen Ton mehr rausbringen konnte.
Das Konzert ist der Tourauftakt ihrer Tour, die sie noch nach Berlin, Frankfurt und dann nach Italien, Kanada und Frankreich führt. Pulsierende Elektronik, Roy Chens intensives Schlagzeug, die Wah-Wah-Gitarren des umwerfenden Uri Brauner Kinrot an Gitarre und die Präzision Amir Sadots am Bass entfalten einen orientalischen Elektrobeat höchster Intensität. Was für eine Band. Liraz tobt immer wieder mit Tambourin über die Bühne, lacht, tanzt, steht im nächsten Moment am Mikro und singt mit einer Intensität und Zärtlichkeit, die einen einfach wegbläst.
Dearest
(aus Azizam – Dearest)
You know I am crazy in love with you
You are my healer, you are mine dearest
You know your soul is
Air to me
Der Abend ist eine gigantische Party. Und sehr politisch. Im Publikum sind wohl hauptsächlich iranischstämmige, aber auch überraschend viele „Biodeutsche“. Viele singen mit, schön klingende Bemerkungen fliegen auf Farsi zwischen Fans und Bühne hin und her. Nach einigen Songs hält Liraz inne und beginnt, von ihrer Geschichte zu erzählen. Wie sie sich als Kind in der israelischen Diaspora immer so anders gefühlt hatte. Versuchte, so wie alle anderen zu sein. Wie sie irgendwann später ihre iranischen Wurzeln lieben lernte und sich nach einer ersten sehr viel ruhigeren hebräischsprachigen Platte dazu entschloss, auf Farsi zu singen und die letzen beiden Platten gemeinsam mit iranischen Musikerinnen aufzunehmen. ein ziemlicher Tabubruch in Israel. Und im Iran ein Akt der Rebellion.
Mit ihrer Musik will sie sich an die Seite der unter Lebensgefahr für ihre Freiheit kämpfenden Iranerinnen stellen. Riesiger Applaus. Jemand im Publikum hält ein Schild mit dem Kampfruf der feministischen Revolution der IranerInnen in die Luft, die Menge skandiert ZAN ZENGEDI AZADI, zu Deutsch FRAU, LEBEN, FREIHEIT. Liraz und alle anderen mit erhobener Faust. Der Saal tobt. Die Ekstase geht weiter, immer intensiver. Menschen von hinten drängen nach vorne, alle tanzen, lachen, sind glücklich. Konzert des Jahres.
Die Revolution tanzt
Nach dem Konzert legt DJ SARBAN klassische persische Platten von Googoosh, Farzin, Habib und weiteren Stars der persischen Tanzmusik aus der Zeit vor der islamistischen Revolution 1979 auf. Unter seinem Pult hängt die iranische Nationalflagge, doch statt des Symbols der Islamischen Republik und statt Löwe und Sonne, den Symbolen des Schah-Regimes, steht auch da in grossen Lettern ZAN ZENGEDI AZADI. Liraz stellt sich neben sie und lässt sich mit zum Victory-Zeichen erhobener Faust mit ihr photographieren. Sie sagt mir dazu: “you have no idea, what that means to me”. Ich verstehe sie sehr viel besser als sie bis dahin ahnt.
JIN. JIHAN. AZADI.
Frau. Leben. Freiheit.
Galerien (by Jörg-Martin Schulze bs! 2022):
Setlist:
- Lalei (Zan)
- Bia Bia (Zan)
- Mastam (Zan)
- Mimiram (Roya)
- Doone Doone (Roya)
- Azizam (Roya)
- Interlude
- Zan Bezan (Zan)
- Tajik
- Injah (Zan)
- Zendegi (Zan)
- Roya (Roya)
- Bishtar Behand (Roya)
- Omid (Roya)
- Hala (Zan)
Encore: - Dolate Eshg (Zan)
- Joon Joon (Zan)
Links:
https://www.facebook.com/LirazOfficial
https://idol-io.link/Roya
https://glitterbeat.com/artists/liraz/
https://emerged-agency.com