Review: Bitter-süße Sehnsucht – Berührendes Gesamtkunstwerk. Die Andere Seite live (18.05.2022, Hamburg)

Sehr langsam füllt sich das Grünspan am 18.05.2022 in Hamburg. Ein Teil der Konzerthalle wurde abgetrennt. Einige große Fans der Anderen Seite sind allein gekommen. Sie befürchten, dass es nicht viele sein werden, die kommen und Tom Schilling und seiner Band zeigen werden, dass ihre Musik toll ist. Gerade, nachdem das Konzert in Frankfurt wegen mangelnder Nachfrage abgesagt werden musste. Insgesamt besuchen 76 Zuschauer das Konzert in Hamburg. Bevor es losgeht, wird „Wenn ich mir was wünschen dürfte“ von Marlene Dietrich eingespielt.

Denn wenn ich gar zu glücklich wär
Hätt ich Heimweh nach dem Traurigsein

Ein Lied, das sich wirklich gut in die Leitmotive von Die Andere Seite einfügt. Das neue Konzeptalbum der Band heißt „Epithymia“. Dieser Begriff kommt aus dem Griechischen und bedeutet Sehnsucht, unstillbares Verlangen. Wer die Lieder gehört hat, versteht mühelos, wie es zu dem Albumtitel kommt. Ob es Liebe, die Geborgenheit, die ein Kind von den Eltern braucht oder sogar die Sehnsucht nach dem Tod ist. Fast jedes Lied erzählt eine Geschichte, die ein Suchen, ein Fehlen und Melancholie in sich trägt.

Die Andere Seite (Foto: Jörg-Martin Schulze bs! 2022)

Ziemlich pünktlich kommt Die Andere Seite auf die Bühne. Es ist die fünfköpfige Band um Tom Schilling. Das erste Mal ist sie unter dem neuen Namen auf Tour. Zuvor hießen sie noch Tom Schilling & The Jazzkids, die Besetzung ist nahezu gleichgeblieben. Der neue Name passt wirklich besser zu ihrer aktuellen Musik.

Schillings Gesang wird begleitet von zwei Gitarren, einem Klavier und einem Schlagzeug. Ab und zu spielt er selbst ein Harmonium. Es steht ganz vorne, zwischen ihm und dem Publikum. Vielleicht fühlt er sich so wohler? Für viele BesucherInnen ist es jedenfalls das erste Mal, dass sie ein solches Instrument sehen. Es beginnt schon moll-lastig und düster mit den Liedern „Gera“, „Bitter und Süß“ und „Kalt ist der Abendhauch“. Das vierte Lied ist ein Cover der Ballade „Kinder“ der Liedermacherin und Lyrikerin Bettina Wegner.

Ein Lied, das eins der zentralsten Dinge ausdrückt:

Sind so kleine Seelen
offen und ganz frei.
Darf man niemals quälen
gehn‘ kaputt dabei.

Gerade solche Themen scheinen Tom Schilling zu beschäftigen. So singt er im Laufe des Abends auch das neue Lied „Aljoscha“. Angelehnt an den russischen Film „loveless“ erzählt es eine Geschichte von einem Jungen, der von zu Hause fliehen muss, um zu überleben.

Die Tränen laufen und es wird ihm klar,
Aljoscha du musst gehen‘,
(…)
um zu fehln‘.

Bei ihrer Musik muss man unbedingt auf die Texte achten. Sie sind sehr bedeutungsvoll und berührend und dabei fast immer offen für eine eigene Interpretation. Wie gut Tom Schilling mit den Worten umgeht, ist beeindruckend. Zusammen mit seiner klaren Stimme und der instrumentellen Untermalung, die oft mit Disharmonien spielt, ergibt sich ein Gesamtkunstwerk, das einen immer mal wieder zu Tränen rühren kann. Doom Folk nennt Tom Schilling seine düstere Musik. Dunkel ist sie wirklich, aber nicht kalt.

Die Andere Seite (Foto: Jörg-Martin Schulze bs! 2022)

Besonders das Schreiben der Lieder sei für ihn zentral. Teilweise könnte man glauben, seine Texte stammen aus einem Gedichtband aus der Epoche der Romantik. So wirkt auch das drittletzte Lied des Abends „Die Ballade von Eisenofen“ wie ein Märchen in Liedform. Aber nein, Tom Schilling stellt klar: Diese Geschichte handelt vom inneren Gefängnis der Depression und Selbstmord. Dass man diese bedrückenden Themen so bildlich und einfühlsam darstellen kann, ist bemerkenswert.

Und es ging von ihr das Herz gefroren
zurück in seinen Eisenofen.
Und es sah aus leeren Augen und konnt‘ nicht an die Liebe glauben.

Dass Tom Schilling nicht so gern auf der Bühne steht, merkt man ihm nicht an. Der Auftritt wirkt authentisch. Er ist ganz bei sich und der Musik, nichts wirkt nur performt. Neben den neuen Songs werden auch viele vom älteren Album „Vilnius“ gespielt. So zum Beispiel „Ballade von René“ und „Kein Liebeslied“. Die älteren Songs sind oftmals schneller und bringen Bewegung in den Auftritt, zum Beispiel beim Lied „Genug“.

Dass nur wenige Zuschauer gekommen sind, merkt man kaum. Die, die dort sind, zeigen Begeisterung für die doppelte Anzahl Menschen. Als Tom Schilling am Ende des Auftritts ankündigt, zum Signieren wiederzukommen, ist die Freude unter ihnen groß.

Galerien (by Jörg-Martin Schulze bs! 2022):

Die Andere Seite (Foto: Jörg-Martin Schulze bs! 2022)<

Setlist:

  1. Gera
  2. Bitter & Süß
  3. Abendhauch
  4. Kinder
  5. Die Königin
  6. Ballade von René
  7. Heller Schein
  8. Aljoscha
  9. Die Weide
  10. Kein Liebeslied
  11. Genug
  12. Rasteryaev
  13. Das Lied vom Ich
  14. Ins Nichts
  15. Draußen am See
  16. Ballade vom Eisenofen
  17. Das Lied vom einsamen Mädchen
  18. Als wär‘s das letzte Mal

Links:
https://m.facebook.com/DieAndereSeiteEpithymia/

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