Element of Crime, Blumfeld, Tocotronic, Thees Uhlmann, Die Sterne, Niels Frevert, The Flowerpornoes – das Line-Up des Rolling Stone Beach liest sich nahezu wie eine Zeitreise zurück in die wunderbaren 90er Jahre. Bedingt durch die Pandemie war es sicherlich schwierig, mehr internationale Künstler nach Schleswig-Holstein zu holen, so standen auf dem ursprünglichen Programm unter anderem Modest Mouse, die Sleaford Mods und Tito & Tarantula. Während das Ersatzprogramm bei den einen für Frust sorgt, scheint der Großteil extrem happy über diese Menge Nostalgie.
Das Festival mit etwa 4000 Gästen findet unter der 3-G Regelung statt. Täglich müssen Besucher*innen entweder nachweisen geimpft oder genesen zu sein oder einen tagesaktuellen Test vorlegen, was hervorragend und zügig funktioniert. In Anbetracht der zu diesem Zeitpunkt bereits steigenden Zahlen wäre eine 2G+ Regelung vielleicht die bessere Entscheidung gewesen, denn in den 3 kleinen Sälen und im Zelt wird es eng. Ohne Maske und Abstand dürfen endlich wieder Konzerte zelebriert werden, wie es lange nicht möglich war.
Die Eröffnung des Rolling Stone Beach wird den Kanadiern von The Dead South überlassen. Auf der großen Zeltbühne bringen die bösen Zwillinge der Mumford and Sons, wie die Band gern genannt wird, die Menge in Festivalstimmung. Der Südstaatensound der Band und die damit einhergehenden Themen wie Alkoholismus, Missbrauch und Inzest, mögen zwar noch als künstlerische Freiheit durchgehen, in Verbindung mit den Missbrauchsvorwürfen gegen Bassist Denny Kenyon im August letzten Jahres hinterlässt der Auftritt der Musiker einen bitteren Beigeschmack, obwohl die Band seitdem sehr bemüht ist, Safe Spaces auf ihren Konzerten zu schaffen und selbst an Trainings zu „Consent“ teilzunehmen. Dem Gros des Publikums scheint es egal, die Freude endlich wieder live-Musik genießen zu dürfen überwiegt.
Das merkt man auch kurze Zeit später im Möwenbräu bei Newcomer Betterov. Dessen jüngste Single „Dussmann“ im vergangenen Sommer in jeden gut sortieren Spotify Algorithmus gespült worden sein dürfte. Mit seinen deutschsprachigen Texten fügt sich Betterov bestens in das Line-Up ein, bringt jedoch auch dringend benötigten frischen Wind mit. Sichtlich erfreut über eine echte Clubshow erzählt der Musiker von den Gigs des letzten Jahres in Strandbars und an anderen kuriosen Orten.
„Überall sunny Vibes – und dann kamen wir.“
, lacht er.
In der Musik des gebürtigen Thüringers schwingt eine ganze Menge Melancholie, trotzdem ist die Stimmung bestens. Die Menge tanzt und ist erstaunlich textsicher, die Band fegt durch ihr Set wie nix. Eine grandiose Show. Festivalhighlight könnte man sagen. Zugaben werden gefordert, doch mehr Stücke gibt es nicht. Stattdessen werden einfach „Angst“ und „Dussmann“ doppelt gespielt – stört niemanden. Im Gegenteil. Das Set ist so gut, dass alle im Raum einfach auf Friska Viljor pfeiffen, die fast simultan im Zelt aufschlagen. Das ist mit Sicherheit das größte Problem des sonst wahrlich gelungenen RSB – der Timetable ist grauenvoll. Zu viele Überschneidungen, die wohl dazu dienen sollen, die Menge zu entzerren, aber stattdessen für viel Frust unter den Besuchern sorgen.
Auch die Sets von Niels Frevert und Element of Crime überschneiden sich. Beides Künstler, die ein ähnliches Publikum anziehen. Beides Shows, die es sich zu sehen lohnt. Niels Frevert spielt im Baltic Festsaal, vor dem sich eine lange Schlange bildet. Durch technische Probleme kommt es zu einer kleinen Verspätung, ab da klappt dann aber alles hervorragend. Element of Crime füllen mit Leichtigkeit das große Zelt und liefern eine gewohnt professionelle Show bei bester Laune. Hier fällt auf, dass auch das Publikum zur Hamburger Schule gegangen sein muss. Überwiegend stark alkoholisierte Männer in ihren 50ern drängen sich dicht vor der Bühne. Im Baltic Festsaal wartet kurz darauf ein weiteres Highlight. Blumfeld! Die Band hat sich in den letzten Jahren eher rar gemacht. 2014 eine Reunion zum Jubiläum „L’Etat et moi“ und 2018 dann die Love Riots Revue Tour. Dementsprechend hoch war der Ansturm im Baltic Saal. Sänger Jochen Distelmeyer schien davon sichtlich gerührt. Die Hits sitzen, zugegeben nicht immer ganz perfekt, aber die Show ist großartig. Highlight dabei „Wohin mit dem Hass“
„Kennst du die Reichen und Mächtigen?
Blumfeld
Lass ihre Wagen brennen
Sie haben weder Respekt noch Angst vor uns
Also wohin mit dem Hass?“
Natürlich lohnt es sich, hier bis zum Ende zu bleiben, aber im Zelt startet schon kurz darauf ein ebenso gut gelaunter Thees Uhlmann. Zugegeben hat dieser auch in den letzten zwei Jahren überall gespielt, wo es eine Steckdose gibt, aber die Menschen kriegen scheinbar nicht genug. Ein gewohnt sicheres Set mit gewohnten Ansagen holt die Menge gewohnt sicher ab. Der Uhmann’sche Charme zündet eben immer!
Etwas leiser startet der zweite Tag. Muff Potters Thorsten Nagelschmidt liest aus seinem jüngsten Roman „Arbeit“ und das bereits zum 40. Mal. Das Möwenbräu ist bestuhlt und gut gefüllt. Gespannt wird den Worten Nagelschmidts über verschiedenste Figuren im hektischen Berliner Nachtleben gelauscht.
Die erste Musik des Tages kommt von Cassandra Jenkins aus New York. Leiser Ambient-Folk der die Menschen im Saal dazu zwingt, wirklich zuzuhören, die Gespräche einzustellen und sich einmal voll und ganz auf das Bühnengeschehen zu konzentrieren, denn man möchte definitiv nichts verpassen.
Doch auch hier gilt es wieder, früher abzubrechen, denn im Zelt wartet Tom Liwa mit den Flowerpornoes. Alleine mit FFP-2 Maske kommt Liwa auf die Bühne gestiefelt und startet das Set mit dem Beatles Klassiker „Dear Prudence“ bevor der Rest der Band ihn durch ein wundervoll melancholisch poetisches Set begleitet. Danach gilt es sich wieder zu entscheiden. Die immer wieder großartigen Sterne oder doch etwas frisches? Auf der Alm spielen The Screenshots, welche in den letzten 2-3 Jahren von sich Reden gemacht haben. Mit ihrem Scheiß-auf-alles-Sound locken sie vor allem das jüngere Publikum vor die Almbühne. Die Schlange unendlich lang, nicht jeder bekommt einen Platz bei der Show. Schade, denn der Auftritt ist grandios. Die Screenshots spielen, als stünden sie vor dem Publikum im großen Zelt und nutzen jeden Millimeter, den die winzige Almbühne zu bieten hat. „Europa“, „Deutschland“ „Fussball“ – die Setlist ist ein satirisches Spiegelbild unserer Zeit, welches die Screenshots mit bestem Händchen vertont haben.
„Europa Europa Europa Europa
The Screenshots
Keiner darf rein
Das lieb ich an dir“
Nahezu zeitgleich wummert auf der Zeltbühne Sophie Hunger. Den Bass auf 12 gedreht muss man gar nicht vor Ort sein, um das Spektakel der begnadeten Musikerin mitzubekommen. Zeitgleich mit Kat Frankie spielen auf der Alm Big Joanie aus Great Britain. Atonaler, unrythmischer, feministischer Punk, der das Publikum zu begeistern weiß. Vor der Alm versammeln sich wieder zahlreiche Zaungäste, die die Show auf einem Fernseher mitverfolgen. Die Band überzeugt mit ihrem ganz eigenen Stil und hat sich in England bereits einen Namen erspielt, unter anderem als Support von Sleater-Kinney und Idles.
Noch mehr Punk aus England gibt es im Zelt mit The Undertones – ein paar gut betagte Herren zeigen dem Publikum, wie man so als Musiker auf der anderen Seite des Teichs altert. Eine mitreißende Show getragen von Frontsau Paul McLoone, der gar keine andere Möglichkeit lässt, als an seinen Lippen und Hüften zu kleben. Überraschend gut.
Härtere Töne gibt es endlich mit Kadavar. Und siehe da – plötzlich kommen sie von überall, die Kuttenträger. Im Baltic Saal wird es rappelvoll. Und laut. So verdammt laut. Über den Psychedelic Stoner Rock und die grandiosen Shows der Berliner muss eigentlich nichts mehr gesagt werden. Wo Kadavar spielen wächst kein Gras mehr.
Der Zugabenteil ist dann auch gar kein Problem. Es gibt einfach 2 neue Stücke vom kommenden Album „Nie wieder Krieg“ und zwar „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“ und „Ich tauche auf“ – Genug Nostalgie und ein wacher Blick in die Zukunft.
Ganz ähnlich verhält es sich mit den Headlinern des Abends. Tocotronic laden ein ins Zelt und spielen ihr „The Hamburg Years“ Programm, gestartet mit „Freiburg“ – Was zur Hölle soll man da noch als Zugabe fordern? Die alten Stücke begeistern das alternde Publikum. Ein wunderbarer Moment, wenn ein Saal voller Mid-50er
Tocotronic
„Ich will Teil einer Jugendbewegung sein“
schmettert.
Abschließend lässt sich sagen, dass das RSB 21 eine Wohltat war. Konzerte ohne Abstände, Stühle und andere Beschränkung zu feiern ist in solchen Zeiten ein absoluter Luxus. Aber man muss auch sagen, dass das Festival nichts für Genießer ist. Durch den engen Timetable kommt viel Stress auf. Mehr Fast-Food als Gourmet. Bei der Qualität der auftretenden Bands ein bitterer Wermutstropfen.
Galerie (Thea Drexhage bs! 2021)
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