Capitano: Hi! (2018) Book Cover Capitano: Hi! (2018)
Gypsy, Pop, Classic Rock
Rough Trade
02.02.2018
www.capitano-band.com

Tracklist:

  1. Good Times (For Bad Habits)
  2. Gypsy On A Leash
  3. Dive!
  4. Get Naked
  5. None The Less
  6. My Bad
  7. Sum Of Things
  8. Superhyperdyperbolic
  9. I Dance
  10. Gypsy (Robert Parker Remix) Bonus
  11. My Own (Waveshaper Remix) Bonus

Der etwas korpulente Mann zeigt uns seinen nackten, stark behaarten Oberkörper. Er blickt uns direkt in die Augen und schaut dabei grimmig. Um seine Schultern hat er einen schweren Mantel aus malvefarbenen Federn geschlungen. Er hat einen rötlichen Knebelbart und trägt eine riesige Maske aus schillernden Pfauenfedern. Das mag befremdlich wirken – ist aber erst der Anfang. Es ist das Cover.

Capitano heisst die Band und Independent Pop Extravanganza nennen sie ihren Stil. Herz und Hirn des kunstvollen Kollektivs sind John Who!? und Fuzz Santander. John, der Sänger mit kanadischen Wurzeln und norwegischem Blut ist ein extrovertierter Entertainer mit einer unglaublichen musikalischen Bandbreite. Fuzz ist Gitarrist, Keyboarder und Klangtüftler, stammt aus Berlin und entwickelt als Master Of Sound seine eigene musikalische Vision.

Geschaffen haben die beiden unberechenbaren Charaktere unter Mithilfe von Dyve Diamond (Drums) und den beiden Bassisten Johnny Oehl und Mikael Goldbløm, eine aufregende Mischung aus Gypsy, Pop und Classic Rock. Ihr Selbstfindungscamp schlug die Truppe in einem abgelegenen Klosterdorf auf, um ihre Kreativität und Eigenartigkeit auszuloten. Entstanden ist ein beeindruckendes Debutalbum, das wie eine riesige Tüte voller quietschbunter Weingummis über einen hereinbricht.

Ohren anschnallen, denn los geht’s gleich mit einem Rock Kracher der derben Art: „Good Times (For Bad Habits)“ beginnt mit einem ordentlichen Schlagzeuggewitter, worauf sich spontan ein kreischendes Riff einmischt. „Cry cry, let this moment pass you by“ intoniert John W. in feinster 70er Prog-Manier. Der Song nimmt spürbar Fahrt auf. Nach einer synthetischen Bläsereinlage kippt die Nummer abrupt in einen zweiten, etwas ruhigeren Part. Synthie-Sound-Fitzelchen flirren durch den Raum, Tonleitern werden erstürmt und dann bremsen die Keybord-Balladen-Akkorde ab, um das Grundthema des ersten Teils wieder aufzunehmen. Absolut gekonnt setzt Who!? hier das Falsett ein.

„Um sein wahres Selbst zu sehen,
muss man manchmal eine Maske aufsetzen.“

Die Stimmung der wahnwitzig gezupften spanische Gitarre, begleitet von einem stampfenden Flamenco-Akkord am Anfang von „Gypsy On A Leash“, treibt das Stück bestimmend in Richtung Dancefloor. Das vordergründige Handclapping, gefolgt von einem geilen Gitarrensolo unterstützt den Druck noch mehr. Der musikalische Einfallsreichtum scheint keine Grenzen zu kennen. Die Jungs lassen die Ideen nur so sprudeln. Flamenco goes Disco!

„Dive!“ ist der Floorkiller. Kindergesang meets Metallgitarre. „Head Up! Hands Down! Hands Up! Head Down“. Gängige Songstrukturen werden erweitert und auch aufgebrochen um eine ganz eigene Dramatik zu erzeugen. „It’s Never Ever Too Late To Regret“, spult sich der Refrain unzählige Male ab und bohrt sich, ähnlich einem Mantra in unsere Gehirnwindungen.

Troy Sanders (Mastodon) ist bekennender Fan von Capitano und steuert auf „Get Naked“ eigene Textpassagen und Gesang bei. Ein fettes Riff und wuchtige Drums treten zum Speed Dating an. Das gepfiffene Solo rundet die textlich vieldeutige Nummer bestens ab.

„None The Less“ ist eine klasse Ballade – wieder etwas spanisch und klassisch angehaucht. Tapas-Bar Atmosphäre angereichert mit Orchesterklängen füllt den Raum. Eine Orgel verbreitet sakrale Stimmung und die himmlischen Chöre steigern sich in ein sich stetig wiederholendes „We don’t care, we don’t care“, hinein. Heiliger Bimbam!

Die Up Tempo Nummer „My Bad“ ist schwer überdreht, zappelig und mächtig hektisch geraten. Die nervigen Modulationen der elektronischen Art passen ganz wunderbar dazu.
So mancher Headbanger mag daran Gefallen finden. Zum Schluss dann noch eine Portion gebrüllte Lyrics, wie frisch aus einem Kraftwerk. Energie pur. Was will man mehr?

„Sum Of Things“ zeigt das grandiose Gefühl für Dramatik und Wohlklang von Capitano.
Ein opernhaftes Leadsolo um das sich eine zweite Gitarre rankt. Dazu wunderschöne und stark verhallte Vocalspuren. John Who!? zeigt uns eine ganz neue Gesangsfacette. Sehr lasziv und hochdramatisch. So kann man es eben auch machen.

„Und wenn der Weg gleichzeitig Ziel ist,
kann man ihn auch tanzen – abseits ausgetretener Pfade.“

„Superhyperdyperbolic“. Der Name ist Programm. Verzerrte Stimme. Kreissägende Elektrokaskaden. Hochgeschwindigkeitsgitarre. Panische ADHS-Orgel. Es kommt zum Ausbruch. Wo bleiben die Pfleger? P-F-L-E-G-E-R-!

Zum Schluss geht’s dann noch auf einen Sprung ins Cabaret. „I Dance“ croont John zur grandiosen Klavierbegleitung von VKgoeswild (Viktoriya Yermolyeva, eine klassische Pianistin aus Kiew.) Großes Finale am Ende einer Glam-Show. Dann, nachdem die letzten Besucher gegangen sind, baut der Zirkus ab und verlässt still und heimlich die Stadt.
„We danced. I danced in the Gin. You danced. Danced in our Troubles“.

Sehr reizvoll und einnehmend ist es, wie gekonnt Capitano bekannte Genrefiguren innerhalb eines Tracks mischen. Auf dem Album gibt es zahlreiche Zitate und Reminiszenzen an andere Interpreten und deren Songs. Vergleiche sind aber hier nicht angemessen, denn es macht viel mehr Spaß, diese beim Zuhören für sich selbst zu entdecken.

Aufgenommen wurde in diversen Studios und gemischt wurde das Ganze von Dan Stone im Maarwegstudio (Köln). Eines der letzten klassischen Recording-Studios hierzulande.
Das erklärt auch den durchgehend warmen und absolut klaren Sound, trotz der vielen Spuren und den zahlreichen elektronischen Gimmicks.

Alles in allem liegt hier ein abwechslungsreiches Stück Musik vor, welches so ideenreich produziert und abgemischt wurde, dass es dabei unzählige klangliche Kostbarkeiten zu entdecken gibt. An manchen Stellen taumelt es auch mal knapp am Abgrund zur Überladenheit. Aber eben nur knapp.

Absolut sehenswert ist auch das Video zu „Gypsy On A Leash“. Unter der Regiearbeit von
Katja Kuhl (Moses Pelham, Glashaus, Tokio Hotel) wurde es in drei Episoden konzipiert.
Im ersten Teil führt John Who!? als leuchtender Don Quichote Pferd und Hund spazieren,
in der zweiten Episode steigt er klitschnass aus einem Pool und setzt sich mit auf das Sofa
und an den Tisch einer Klischeefamilie. In der Sequenz zum Schluss tanzt er dann völlig losgelöst mit seiner Federmaske vor seinen ganz in Grün gekleideten Mitmusikern.
Ein Spaßvogel ist er auch noch dieser Kapitän!

https://www.youtube.com/watch?v=f8x0Ys1JXig

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Axel Ganguin
Axel Ganguin hat ungeduldig die Alchemie der Worte studiert. In alten Büchern, in farblosen Flamingos, in einem Traumzauberbaum. Er hat sie in den Wolken gesucht. In Italien. Im Rotwein. Im Regen. Und manchmal geht er barfuß ins Bett. Er hat die Farbe der Vokale ausgespuckt wie eine tote Auster. Er schrieb ein Schweigen in die Glut und hat sich als Grafik-Designer erfunden. Axel trägt die Klamotten von Nick Drake auf und küsst die Nacht, bis der Spannungsbogen albern knistert. Axel lässt sein Vokabular für uns „mit unversehrtem, bösartigem Herzen, mit einer tyrannischen Unschuld“ zur Ader.