Ich laufe die dunkle Straße von der Haltestelle „Stadionbrücke“ entlang, vorbei an einer unüberschaubaren Schlange geduldig wartender Gäste zur Swiss Life Hall. Obwohl die Halle mit schweren, schwarzen Vorhängen geteilt ist, wartet alles noch nach offiziellem Showbeginn. Ein danebenstehender Regenbogen-Würstchenverkäufer freut sich über die zahlende Kundschaft. Für ihn hat sich der Abend jetzt schon gelohnt.
Jetzt aber hurtig
…Jacken abgeben und rein, denke ich mir, doch Pustekuchen. Trotz anstellen und warten an der ersten Garderobenschlange, darf ich zur zweiten tapsen und wieder warten. Leider besteht auch allgemeine Verwirrung darüber, welcher Eingang überhaupt offen ist. Nun habe ich es aber geschafft und freue mich, dass ich mich noch vor dem Konzert mit Leckereien eindecken kann. Mit Brezel und Bier bewaffnet steige ich hinab in die Finsternis. Der erste Schluck Gesöff wird mein Opfer an Mutter Erde, denn die Multicore-Abdeckleiste direkt am Eingang ist nicht beleuchtet. Ich bin nicht die einzige, die hier stolpert.
Lachend trete ich ein und blicke auf die nette Kinobestuhlung im hinteren Teil. Ich bevorzuge es aber, mich nach vorne zu schlängeln. Auf dem Weg erzählt mir eine Dame aufgeregt, dass es das erste Konzert ihres Enkels ist. Dieser schaut erstaunt und leicht bedröppelt auf das große Hämatom-Banner, auf dem ein Mensch majestätisch die Arme ausbreitet. Er erhebt sich aus seinem Erbgut und scheint uns anzuschreien wie der Sänger Nord im ersten Song:
Wir sind Gott!
Der Text bewegt sich zwischen “in-your-face”, Ironie und Zeilen, die zum Nachdenken anregen:
Heute preisen wir das Wachstum,
Feiern Messen bei Esprit und kik,
Warten auf die iOS Erleuchtung
Und nen pornoresken Fick
Mit seiner corpse paint, die an einen von Odins Jägern oder einen Indianergeist erinnert nimmt er die Bühne ein. Scarecrow-Streitaxter “West” und die anderen Himmelsrichtungen als Luchero-Punk Gitarrist und “Dia de los muertos” Drummer ballern uns heftig in den Bauch. Ein geballtes Präsenzinstrument, was auch uns gleich zum mitgrölen animiert, obwohl wir noch nie etwas von ihnen gehört haben. Alle Pommesgabeln gehen hoch und aus der Menge tönt es zurück.
Das Anfüttern der Meute mit Merch funktioniert schon mit einem “Hämatom” – Shirt ausgezeichnet, aber dann setzen sie noch einen oben drauf und holen ihre T-shirt Kanone raus. Auch die leicht leicht poetischen Ansagen mit rauer Stimme tragen zur Atmosphäre bei.
Das geil verrockte Cover von Marterias “Kids” weckt schon große Freude in mir und meiner Begleitung. Keiner hat mehr Bock auf Feiern? Wir schon. Und “Hannover alte Liebe” mit double bass hätte auch Ossy Pfeiffer ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. Zum Abschluss animiert uns der Frontmann, zur Stressbewältigung die Stinkefinger gen Bühne zu heben und gemeinsam unserem Frust Luft zu machen. Auch ich denke an meinen liebsten Feind und stimme mit ein:
„Leck mich! Leck mich du Wichser!“
Ortswechsel. Ich möchte weiter nach vorne! Man versucht ja was man kann: Ich drängle mich auf einen kahlköpfigen Sicherheitsmenschen zu, der mir trotz Augenklimpern sagt, dass ich nicht weiter darf. “Gleich ist hier Party, Liebes. Dann sehen deine Haare aus wie meine.”
Aaawww, schade.
Nach dem Umbau sieht man links das Bandlogo kreuz(igungs)förmig, rechts einen Galgen und mittig eine riesige, schelmisch grinsende Hexengestalt mit Wünschelrute, alles in schummrig-blaues Licht getunkt.
Schellen ertönen und Dudelsäcke spielen die sanfte Melodie des Titelsongs vom neuen Album Quid pro Quo (lat. Dieses für Das = Geben und Nehmen), was das Publikum zum singen verleitet, noch bevor In Extremo überhaupt zu sehen sind.
Plötzlich knallt es laut, die Banner werden eins nach dem anderen mit Explosionen auf den Bühnenboden befördert und geben endlich den Blick auf die Stars des Abends frei. Rote Jacken, gestreifte Hemden und bubische Rockerklufttrachten passen in die Atmosphäre eines warm erleuchteten Weinkellers. Dr. Pymonte erregt direkt meine Aufmerksamkeit, wie er da mit seinen überdimensionierten Schlägern Melodien aus einem großen dreieckigen Instrument herausprügelt. Das Ding ist so exotisch, dass ich nicht mal seinen Namen herausfinden kann.
Und Feuer!
Puuh, man gut, dass ich nicht durchgekommen bin – die sengende Hitze tauft mich auch 10m weiter noch neu. „Verbrennen wir zusammen!” ruft das Multitalent mit dem wunderbaren Künstlernamen das letzte Einhorn, und sogar ich singe die “Feuertaufe” mit. Das Publikum ist erstaunlich gut vorbereitet. So fliegt zum Song „Zigeunerskat” ein Skatblatt durch die Luft.
Der alte Hit Vollmond lässt mein orientalisches Herz mit sehr geilem Bass höher springen. “Ihr werdet fliegen übers Meer” – das berührt mich sehr. Specki T.D. geht richtig ab und entzückt mit einem undercut-headbang. Dabei bringt er den Apple neben seinem Schlagzeug zum Wackeln, und meinen Arsch gleich mit.
Ich frage mich, warum ich In Extremo bisher nur vom Namen her kenne… Naja, vielleicht weil ich noch nie auf Helgoland oder Rügen war. Dort trifft man die Jungs wohl öfter, wie der neue Song Störtebeker vermuten lässt. Die Hüften werden erneut gestreichelt. Jetzt wird auch noch die Schalmei ausgepackt, ein mittelatlerliches Blasinstrument aus Holz mit näselndem Sound.
Von den Dudelsäcken Yellow Pfeiffer und Flex Der Biegsame kriegen wir einiges zu hören und zu sehen. Sie spielen urig aussehende Marktsackpfeiffen und knallrote Uilleann Pipes mit charakteristischem getragenem Timbre. Die beiden haben sichtlich Spaß daran, synchron zum Beat zu tanzen. Unser kleiner Freund leider nicht. Es ist alles zu viel für ihn, er kommt ins Wanken und Oma und Opa müssen ihn auf dem Weg nach draußen stützen.
Bei den nächsten Liedern werden noch mehr Instrumente von einst hervorgeholt. Gitarrist Van Lange spielt auf einer Cister, die mich an die Oud der Mauren erinnert. Besonders beeindruckt mich die Nyckelharpa, eine schwedische Schlüsselfidel, die gehalten wird wie eine Gitarre, aber mit einem Bogen gespielt wird. Solche Klänge habe ich noch nie gehört.
Mit der Vielfalt der Instrumente geht eine ähnliche Diversität musikalischer Strömungen einher. Liedgut aus dem 14. Jahrhundert wird durch modernen Rock mit Piratenmusik und verschiedene Volksmusiken verwoben. Es entsteht ein ganz eigener Sound, ab jetzt ist In Extremo für mich unverkennbar.
Auch textlich werden wir auf Reisen in fremde Länder und alte Zeiten geführt, sodass ich mich regelmäßig frage, in welcher Sprache gerade überhaupt gesungen wird. Bei aller Internationalität bin ich in Estländisch, Walisisch oder Latein jetzt nicht so bewandert. Ist das Polnisch? Nein, Altfranzösisch, sagt man mir. In „Чёрный ворон“ (Schwarzer Rabe) wird ein russisches Volkslied als harter Rocksong mit Dudelsack und Schrammelbass von „Die Lutter“ dargeboten. Es handelt von dem blutigen Ende eines Soldaten, der anstatt seiner Liebsten nur den Tod als Braut hat.
„Lieb Vaterland, magst ruhig sein“ hat eine ähnlich düster-pazifistische Message. Hier wird das Nationalgefühl der inoffiziellen Hymne des Deutschen Kaiserreichs „Die Wacht am Rhein“ von 1840 mit einem Kinderchor ebenso dekonstruiert, wie naive Religiosität:
Lieb Vaterland, magst ruhig sein
Ein jeder stirbt für sich allein
Ich bin klein
Mein Herz ist rein
Kann niemand darin wohnen
Nur der TOD allein
Nicht nur hieran erkennt man, dass In Extremo und Hämatom klar Position gegen Rassismus und braun-rechtes Denken beziehen. Auch das Publikum spiegelt das deutlich wider. Als ein Mann mit sichtbaren Hooligan- und Nazitattoos durch die Menge pöbelt reagieren alle sofort und lassen ihn elegant von der Security über die Absperrung heben.
Barde und Gefolge haben ihr Baby gut konstruiert. Jedes Lied hat ein anderes Farb- und Lichtkonzept. Die Pyro knallt ordentlich und reißt alle mit: Frauen im höheren Alter in Mittelalterkleidern, die fast jedes Lied auswendig mitsingen, Männer in Schottenröcken und Metaler, die wild pogen. Auch der Enkel ist wieder mit dabei. Dann harmonieren uns Harfe und Dudelsack wieder einen vor und wir werden sentimental. So richtig romantisch wird es mit Konfettistreifen, die von der Decke rieseln.
End with a bang!
Der Abschied ist episch. End with a bang! Oben Feuer, unten Schnee. Das jubelnde Publikum streckt den Schwitzenden die Metalhand entgegen, das letzte Einhorn raucht cool und Van Lange grüßt mit nem Peace – Zeichen zurück. Es wird hell und man sieht den Leuten den Pegel an.
Man merkt, dass die Rocker von In Extremo schon seit Jahrzenten auf der Bühne stehen und als die Mittelalterrockband schlechthin gefeiert werden. Bei den Jungs von Hämatom hat man den Hunger aber noch stärker gespürt. Sie sind noch bis in den Januar auf Tour. Wer einen vielfältigen Abend mit professioneller Show erleben will, sollte das nicht verpassen.
Text: Bahar Arac. Besten Dank auch an Johannes Neumann und David Hölscher für ihre Unterstützung.
Fotos: Kollege Norbert Pfeifer half uns mit seinen tollen Fotos aus. Besten Dank!
Gallerien:
Links:
www.inextremo.de
www.haematom.de