Finnland hat in den letzten Jahren von sich Reden gemacht. Nicht nur durch die Pisa-Studie, sondern insbesondere durch den seit Beginn des neuen Jahrtausends rasant wachsenden Musikexport. Bands wie Nightwish, Apocalyptica, HIM oder The Rasmus lenkten das Augenmerk internationaler Plattenfirmen und Musiksender gen Norden, und seither pilgern jährlich unzählige Fans aus aller Herren Länder zu den Festivals im Land der tausend Seen, Millionen Mücken, des Weihnachtsmannes und des Heavy Metals.
Das Ende des Sommers beschließt traditionell das Ankkarock (zu Deutsch „Entenrock“) Festival in Korso, nahe der Stadt Helsinki. Vorbild für das Enten-Cartoon-Logo des zweitägigen Musikevents ist jedes Jahr ein anderer Künstler aus einer der auftretenden einheimischen Bands. Für 2008 hat Jouni Hynynen, Frontman der finnischen Band Kotiteollisuus Modell gestanden.
30500 Besucher zog das Festival in diesem Jahr an, davon allein am Samstag 3000 Menschen mehr als im Vorjahr – was Veranstalter Juhani Merimaa unter anderem damit begründet, dass HIM, die Headliner des Abends, nur noch so selten in ihrer Heimat spielen, dass sich die Finnen diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Weitere Bands, die auf drei Bühnen die Menge rockten waren Apocalyptica, W.A.S.P., Apulanta, Kotiteollisuus, Sonata Arctica, Poets of the Fall, Hanoi Rocks, Kamelot, Mokoma, Amorphis, The Hives, Tiger Army und Opeth.
Tag 1 (Samstag, 2.8.2008):
Der erste Festivaltag präsentiert sich wolkenverhangen und regnerisch, doch das trübt die Vorfreude nicht. Zum Auftakt gebe ich mir W.A.S.P. auf der kleineren „Puistolava“ (Parkbühne). Bereits während des Soundchecks sichern sich die ersten Fans Plätze in den vorderen Reihen. W.A.S.P. wurden 1982 in den USA gegründet und sind seit Ende 2007 auf Welttournee, um ihr vor 15 Jahren veröffentlichtes wichtigstes Album The Crimson Idol zu feiern. Aus Zeitmangel bekommen wir leider nicht das gesamte Album live zu hören, wie es für die Klubkonzerte angekündigt ist, doch die ehemaligen Schock-Rocker verstehen es immer noch, souverän ihr Publikum anzuheizen. Schon nach kurzer Zeit rockt die Menge, und zieht damit weitere Neugierige an, die durch den nahegelegenen Haupteingang auf das Festivalgelände strömen. Die Band gibt eine gelungene Mischung aus alten und neuen Songs vom 2007 erschienenen Dominator-Album zum Besten.
Spätestens bei „I Wanna Be Somebody“ und der Aufforderung zur „audience participation“ bleiben keine Stimmbänder mehr verschont, und die Antwort „I wanna be somebody, be somebody, too!!!“ dürfte noch bis zur 500m entfernten Hauptbühne zu hören sein. Wenn das kein vielversprechender Anfang ist!
Links:
www.waspnation.com
www.myspace.com/wasp
Warmgerockt mache ich mich auf den Weg zur Korsolava, der Hauptbühne. Um halb vier sind Hanoi Rocks angesagt, und die bereits wartenden Fans bieten ein genauso farbenfrohes Bild wie die Band selbst – ein krasser Gegensatz zu den überwiegend schwarzgekleideten Anhängern der Vorgängerband W.A.S.P.
Sänger Michael Monroe hat in den zwanzig Jahren seit seinem Karrierebeginn nichts von seiner ursprünglichen Energie eingebüsst. Nach einem anfänglichen Kampf mit seiner lila Federboa fegt der Glamrocker wie ein Wirbelwind über die Bühne, klettert auf die seitlichen Gerüste und springt in den pit, so dass Security und Kabelträger kaum mithalten können. Die Musik reißt mit und macht Lust auf mehr. Hanoi Rocks‘ zehntes Album Street Poetry ist seit September 2007 auf dem Markt, und die Veröffentlichung wurde mit einem dreitägigen Konzertmarathon im legendären Tavastia Klub gefeiert. Die erste Albumauskopplung „Fashion“ schoss unmittelbar an die Spitze der finnischen Single-Charts.
Gegen Ende des Sets schaut die Sonne durch die Wolken, und es wird warm unter den Regencapes, die sich seit dem Vormittag wie warme Semmeln verkaufen. Ich wandere weiter zur gegenüberliegenden Rockbühne, um mir die nächste Band anzusehen.
Links:
www.hanoirocks.info
www.myspace.com/hanoirocksofficial
Tiger Army, die amerikanische Psychobilly-Band, hat in Finnland viele Anhänger. Im Frühling gab es bereits für einige die Gelegenheit, sich die Band live anzusehen, doch waren beide Klub-Konzerte innerhalb weniger Minuten restlos ausverkauft, und es gab viele enttäuschte Fans, die keine Karten ergattert hatten. Glücklicherweise entschlossen sich Tiger Army, für Ankkarock nach Finnland zurückzukehren. Der Sommer war gerettet!
Entsprechend zahlreich präsentiert sich dann auch das Publikum und begrüßt die Band enthusiastisch. Belohnt werden die Fans unter anderem mit Live-Versionen vom 2007 veröffentlichten vierten Album Music From Regions Beyond.
Links:
www.tigerarmy.com
www.myspace.com/tigerarmy
In der Zwischenzeit wird auf der Hauptbühne fleißig umgebaut. Bei der Rückkehr zur Korsolava finden die Festivalbesucher diese mit einem schwarzen Tuch verhangen vor. Dahinter bereitet sich die schwedische Rockband Kent auf ihren Auftritt vor. Als das Tuch endlich fällt, sind bereits alle Bandmitglieder auf der Bühne und bringen schlagartig die nun auf mehrere Tausend angewachsene Menschenmenge in Schwung.
Die Band singt vorwiegend in Schwedisch und schaffte 1997 mit ihrem dritten Album Isola den skandinavischen Durchbruch. In den folgenden zehn Jahren gingen mehrere Hunderttausend Kopien ihrer CDs über die finnischen Ladentische. Das aktuelle Album Tillbaka till Samtiden (2007) tendiert zwar mehr in die Richtung Electronic Rock, wird aber weiterhin von melancholischem Poprock dominiert.
Links:
www.kent.nu
www.myspace.com/kentsweden
Als Kent gegen halb acht ihren Auftritt beenden, verlässt kaum jemand den Platz vor der Hauptbühne, obwohl die neunzigminütige Wartezeit bis zum Headliner des Abends durch die Von Hertzen Brothers auf der 200m entfernten Rockbühne überbrückt wird.
Neben ihrem traditionellen Silvesterkonzert spielten HIM auch in diesem Jahr nur zwei Festivals in ihrer Heimat Finnland – Ruisrock in Turku am 5. Juli und Ankkarock vier Wochen später. Beide Events werden jeden Sommer von Juhani Merimaa organisiert, der als Geschäftsführer und Promoter des Tavastia Klubs in Helsinki zusammen mit Ville Valo auch für das Helldone Festival mitverantwortlich ist. Der HIM-Frontman dazu mit seinem üblichen Sarkasmus: „Wir bekamen von Mertsi (Merimaa) ein tolles Doppelangebot: Kommt und spielt zwei gigs zum Preis von einem. Wir sind so schlechte Geschäftsmänner, dass wir zugesagt haben.“
Um 21 Uhr ist es endlich soweit. Der Backdrop zeigt nicht, wie erwartet, das Cover des aktuellen HIM Albums Venus Doom, sondern ein silbergraues Heartagram, das sich aus kleineren Heartagrams zusammensetzt. Das Ganze wird – immer provokativ – abgerundet durch eine Diskokugel und ein lila Mikrofon – farblich Ton in Ton passend zu Valo’s aktuell favorisierter Kopfbedeckung. Dieser Mann kann einfach alles tragen und sieht immer noch gut dabei aus. Im Publikum schwenkt jemand eine weiße Heartagram-Flagge und begleitet von „We want HIM“-Rufen marschiert die Band auf die Bühne. Der inzwischen einsetzende Dauerregen stört jetzt niemanden mehr …
Doch nicht nur die Fans sind trotz des schlechten Wetters in bester Laune; auch die Bandmitglieder sprühen vor Energie. Zwischen den Songs redet Valo wie ein Wasserfall und unterhält das Publikum mit der gewohnten Portion an staubtrockenem Humor. Selbst die streng dreinblickende Security kann sich des Öfteren ein breites Grinsen nicht verkneifen. Ville’s Bemerkung, die vordere Reihe sei „voll von Damen, die etwas zu jung für uns sind“ löst jedoch empörten Protest von besagten vorne stehenden weiblichen Fans aus. Die Setlist der Band umfasst Stücke von allen Alben mit Ausnahme von Deep Shadows and Brilliant Highlights. Valo erklärt, dass „Sleepwalking Past Hope“ vom aktuellen Album Venus Doom von „Liebe und Erektionsproblemen“ handelt und verschwindet während des instrumentalen Intermezzos von der Bühne, um neue Zigaretten zu organisieren. Funeral of Hearts widmet er „allen einsamen finnischen Männern“, die an diesem Abend ohne Begleitung anwesend sind. Zwei besondere Überraschungen sind „Your Sweet 666“ von HIM’s Debütalbum Greatest Lovesongs Vol. 666 und der nur noch selten live gespielte Billy Idol-Klassiker Rebel Yell, mit dem die Band ihr fast eineinhalbstündiges Set beschließt. Valo bedankt sich bei den Fans und entlässt die Menge mit einem „Scream for me, Korso!“ – einer Aufforderung, der das Publikum enthusiastisch nachkommt. Am Ende des ersten Festivaltages strömt die Menge durchnässt, erschöpft, aber zufrieden zu den Ausgängen und den nahegelegenen Campingplätzen.
Links:
www.heartagram.com
www.myspace.com/heartagram
Tag 2 (Sonntag, 3.8.2008):
Über Nacht hat es sich eingeregnet und der Boden ist aufgeweicht. Dennoch stapfen wir tapfer durch den Matsch, in der Hoffnung, dass der sich ein wenig aufhellende Himmel doch noch trockeneres Wetter mit sich bringt.
Der zweite Tag Ankkarock beginnt mit einer Band, die in Finnland schon seit mindestens drei Jahren angesagt und seitdem auf ihrem steilen Weg nach oben nicht mehr aufzuhalten ist. Poets of the Fall wurden 2003 gegründet. Den Kern der Band bilden Sänger Marko Saaresto, Gitarrist Olli Tukiainen und Markus Kaarlonen aka Captain am Keyboard. Für die Live-Auftritte werden regelmäßig zusätzlich Bassist Jani, Gitarrist Jaska, und Drummer Jari angeheuert, die der Band jedoch nicht fest angehören. Poets of the Fall machten sich vor allem mit der Single Auskopplung „Late Goodbye“ einen Namen. Das Stück ist Feature Song des Xbox und Playstation Spiels Max Payne 2. Eine zweite Single „Lift“ wurde veröffentlicht noch bevor das eigentliche Debütalbum Signs of Life 2005 auf Poets of the Fall’s eigenem Independent Label „Insomniac“ erschien. Das Album war 56 Wochen in den finnischen Top 40 und wurde mit Gold im Mai 2005, sowie Platin im April 2006 ausgezeichnet. Das zweite Album Carnival of Rust erschien 2006. Nach nur drei Wochen erreichte es Gold-Status und Platin im Dezember 2006. Das brandneue dritte Album Revolution Roulette ist härter und rockiger als seine Vorgänger. Poets stiegen mit der Scheibe gleich auf Platz 1 der finnischen Charts ein und erhielten innerhalb von zwei Wochen Gold-Status.
Doch die Band überzeugt nicht nur auf musikalischer Ebene: Englisch ist Frontman Marko’s zweite Muttersprache, und das schlägt sich in aussagekräftigen, lyrisch ausgereiften Texten nieder. In Deutschland tourten Poets of the Fall bisher nur als Vorband ihrer finnischen Kollegen Sunrise Avenue. Interessanterweise ist der Erfolgsstatus beider Bands in Finnland hingegen genau umgekehrt – schon vor zwei Jahren, im März 2006 eröffneten Sunrise Avenue lediglich als Warm-Up ein Konzert, bei dem Poets of the Fall die Headliner waren.
Und damit nicht genug – wer die Band noch nicht live gesehen hat, weiß nicht was er verpasst. Obwohl es erst 13.30 ist haben sich bereits mehrere Tausend Fans eingefunden, die sich teilweise schon seit dem Einlass um 11 Uhr ihren Platz in der ersten Reihe gesichert haben. Einige haben sogar extra den weiten Weg aus Deutschland in den Norden gemacht, denn sie wissen, was ihnen geboten wird. Und sie werden nicht enttäuscht – die fünf Jungs aus Espoo versprühen auch heute eine Energie, die alle den Regen schnell vergessen lässt. Sänger Marko versteht sich hervorragend auf die Interaktion mit seinem Publikum und springt nebenbei mit fast kindlicher Begeisterung durch die Wasserpfützen auf der Bühne.
Nach siebzig Minuten endet das Set, passenderweise mit „Late Goodbye“. Ein Meer von Händen erstreckt sich von der Bühne bis zum Soundboard die Menge singt lauthals mit. Als ich mich von der Hauptbühne zur Rockbühne begebe, um mir Kamelot anzuschauen, frage ich mich ernsthaft, wie sich der Tag bei so einem starken Auftakt überhaupt noch steigern kann.
Links:
www.poetsofthefall.com
www.myspace.com/poetsofthefall
Kamelot aus den USA stehen für melodischen Power Metal und das dunkle Charisma des norwegischen Leadsängers Roy Khan. Der internationale Durchbruch gelang der Band 2005 mit der Veröffentlichung des Albums The Black Halo, gefolgt vom aktuellen „Ghost Opera“ Album, das 2007 erschienen ist. Vor zwei Tagen noch in Wacken auf dem Open Air Festival, rockt Kamelot jetzt beim finnischen Ankkarock ein zunächst kleines Publikum von einigen Hundert Fans, zieht aber schon nach kurzer Zeit weitere Neugierige an. Die fünfköpfige Band wird unterstützt von Backgroundsängerin Anne-Catrin, die sich ebenso stimmgewaltig präsentiert wie Sänger Roy selbst. Als Frontman beherrscht dieser das Spiel vom Rand der Bühne mit den Fans in der ersten Reihe perfekt und wirkt mit seinem sympathischen Lächeln plötzlich gar nicht mehr so düster. Die Menge feuert die Band durch Zurufe an. Als Kamelot nach einer Stunde ihr Set beenden wollen, ist das Publikum gar nicht damit einverstanden und verlangt nach einer Zugabe. Wann Kamelot wieder finnische Bühnen rocken steht noch nicht fest. In Deutschland werden sie jedoch am 21. März 2009 wieder in Köln zu sehen sein.
Links:
www.kamelot.com
www.myspace.com/kamelot
Inzwischen ist die Korsobühne umgebaut für den Auftritt von Sonata Arctica, eine finnische Band, deren Namen mittlerweile weltweit bekannt sein dürfte. Die Band hat schnellem, melodischem Heavy Metal ihren ganz eigenen Stempel aufgedrückt. Das Erfolgskonzept ging auf, und nach fünf Alben und Konzerten in ganz Europa, sowie Nord- und Südamerika werden Sonata Arctica Ende August zusammen mit Nightwish zu einer gemeinsamen USA/Canada Tour aufbrechen. Zwei Konzerte in Deutschland sind für November 2008 geplant.
Links:
www.sonataarctica.info
www.myspace.com/sonataarctica
Neben Opeth sind an diesem Sonntagabend Apocalyptica als Headliner angesagt. Erstaunlicherweise auf der kleinsten Bühne des ganzen Geländes, doch diese Band benötigt nicht viel Platz um eine hervorragende Show abzuliefern. Die Setlist beinhaltet unter anderem „Somewhere Around Nothing“, „Betrayal/Forgiveness“ und eine instrumentale Version von „Bittersweet“. Als besonderes Bonbon werden wei Songs vom neuesten Worlds Collide Album von Sonata Arctica’s Leadsänger Tony Kakko zusammen mit Apocalyptica vorgetragen: „I’m Not Jesus“, ursprünglich von Corey Taylor (Slipknot/Stone Sour) gesungen, sowie „I Don’t Care“ für dessen Albumversion die Band Adam Gontier von Three Days Grace gewinnen konnte. Um das Ganze abzurunden, gibt es zum Schluss noch das fast schon obligatorische Metallica Cover Enter Sandman auf die Ohren. Ganz zu Ende ist die Show jedoch noch nicht, denn nachdem die vom Headbangen erschöpfte Menge auf Toppinen’s wiederholte Frage, ob denn noch mehr gewünscht sei zustimmend johlt, brüllt dieser zurück: „Dann haltet eure Klappe, wir spielen jetzt klassische Musik!“ Und als allerletzten Rausschmeißer bekommen wir eine Version von Edvard Grieg’s „In der Halle des Bergkönigs“ geliefert, die keine Wünsche mehr offen lässt.
So muss ein Festival sein.
Links:
www.apocalyptica.com
www.myspace.com/apocalyptica