Gruppentherapie mit Sternchen. Frostschutz Für Fortgeschrittene
Als halbwegs gebildetes Persönchen muss Frau die neue deutsche Härte allein aus Imagegründen ablehnen, als prollig nautischen Rammstein-Verschnitt verteufeln und in arroganter Nüchternheit, hoch kritisch das Näschen über die eiserbrochene Fangemeinde erhebend, alles um des Blödfindens Willen blöd finden. Zu dumm, wenn das Näschen absolut keinerlei Grund wittert, der dieses verdingste intellektuelle Gemüsse durchhalten lässt. Ganz im Gegenteil: Eisbrecher lassen nichts unversucht, den kritischen Geist zu verführen. Vom Parkplatzeinweiser bis hin zur charmanten Garderobiere ist alles verdächtig perfekt.
„Am Eingang gibt’s Geschenkte, in der ersten Reihe gibt’s Pillen.“
Dass Alex Wesselsky (vocals) höchst selbst das Publikum für den Support One I Cinema mit einer Dr. Dirty Deetz Showeinlage anheizt, sich für Fotos mit kleinen und großen Fans ausgiebig Zeit nimmt, ist so unendlich sympathisch, dass der professionelle Abstand zum Gegenstand der künstlerischen Betrachtung bröckelt.
„Die Downer gibt’s hinten rechts.“
Fuck, das ist selbstironisch, verdammt, das macht echt Spaß und die haben noch nicht mal angefangen.
One I Cinema seien, so schwärm Multitalent Marco Meyer (vocals, guitar), auf persönlichen Wunsch des Eisbrechers Kapitäns Wesselsky mit an Bord der „Volle Kraft Voraus“-Tour, ein Chance, die für die Newcomer – obwohl musikalisch eher in melodisch alternativen Rock Gewässern unterwegs, in Metal-Riffs und Blueswellen, auf englischen Lyrics segelnd – eine wahnsinnige Chance darstelle, die eigene Musik einem so großen Publikum nahebringen zu dürfen. Spätestens an dieser Welle von Dankbarkeit zerschellen alle Vorurteile. Die Kompassnadel tanzt zu One I Cinema und die neue deutsche Härte lässt die Redakteurin weich werden.
Treiben wir etwas Unzucht, sonst artet das hier noch in Begeisterung aus!
Daniel Schulz, um den dritten Frontmann im „Volle Kraft Voraus“ Paket ins Spiel zu bringen, hat eine Crew an Bord, die ebenso wenig dem entspricht, was man von einem losgelassenen Kettenhund erwartet hätte. Zugegeben musikalisch ist – vor allem die neue Single „das Härteste, was man je von Unzucht gehört hat“ – die Unzucht hart, rau, menschlich hingegen spricht das strahlende Gesicht von Drummer Toby Fuhrmann buchstäblich Bände. Dieser Mann trägt ein Massengrab im Herzen, die Wäsche von Asking Alexandria auf und drückt mit seinem Gesicht aus, was der Schulz formuliert „Wie geil ist das denn das Bitte.“ Das Publikum lässt sich (ver)führen, klatscht. Mono Inc. lässt grüßen, man kotzt Schmetterlinge vor Glück: „Lasst uns feiern, lasst uns fliegen.“
Und alle Hände fliegen hoooooch.
Visite Nr. 2. Auftritt Dr. Dirty Deetz. Lümmeltüten, frisch signiert, damit an Ostern nichts passiert. Gut, das habe ich ihm angedichtet, aber das Spaßometer dieser Behandlung diagnostiziert, dass die Patienten klingen als haben sie den fünften Eimer Sangria am Ballermann intus. Die Gruppentherapie kann beginnen. Das Sitzen auf den Rängen wird untersagt, Tanzen auf Rezept, bevor Dirty Deetz abgeführt, der Dunkelheit weicht. Verrückt. „Wer ist normal hier und wer ist hier krank?!“ Spot an. Der Bonze verteilt Moneten. Das Publikum ist käuflich. Verrückt. Der Bonze bleibt beim Sie in der Ansprache und es ist herrlich obszön.
„Du sagst ich bin anders,
Ich sag‘ du hast Recht.
Du sagst dir geht’s prächtig,
das heißt dir geht’s schlecht.
Ich bin unersättlich,
krieg‘ niemals genug.
Fass‘ in deine Wunden
und schüre die Glut.“
Die neue deutsche Härte ist häufig verdächtig. Deutsche Texte, militärischer Schick. Doch Eisbrecher haben neben einer ausgeklügelten Lichtshow tatsächlich was zu sagen. Mit Fehler machen Leute schwindet der Skepsisgraben. „Wer nichts riskiert, kann nur verlieren“. Feuerzeugromantik. Stomp-Feuertonnen. Goldregen. Schneeflocken und die richtigen Fragen leuchten in den Sternen einer Europafahne.
„Darf ich meine Träume leben? – Nein, das darfst du nicht
Meinem Feind die Hände geben? – Nein, das darfst du nicht
Darf ich mein schwarzes Herz verschenken? – Nein, das darfst du nicht
Darf ich für mich selber denken? – Nein, das darfst du nicht“
Dagegen zu sein, sei so leicht, merkt Wesselsky – die Europafahne präsentierend – an. Das Eis zwischen Band und Skeptikerin ist gebrochen. Es gehe uns so gut, hier in Europa, das sollten wir nicht vergessen. Ehrlich tosender Applaus. Wie soll man das denn scheiße finden!? Es lohnt sich also definitiv, sich für Eisbrecher zu erwärmen, sich nicht von all dem Gold und Testosteron blenden zu lassen, denn wenn im Rahmen dieser Gruppentherapie nur einem einzigen Buhmann Europas Sterne für Liberté, Égalité, Fraternité aufgehen, möchte man gern das Miststück sein, das dieses dunkelste Geheimnis von Eisbrecher verrät: Die sind echt herzig. Publikumsnah, politisch korrekt, perfekt ausgeleuchtet und längst nicht austherapiert. Wenn die Welt friert, müssen Worten taten folgen.
Volle Kraft voraus.
Setlist Eisbrecher
- Intro
- Verrückt
- Willkommen im Nichts
- Augen unter Null
- Fehler machen Leute
- Mein Blut
- Leider
- Amok Maschine
- Prototyp
- Himmel, Arsch und Zwirn
- Herzdieb
- Wir sind Gold
- So oder so
- Eiszeit
- Die Engel
- 1000 Narben
- Miststück (Megaherz cover)
- Drumsolo
Encore: - Volle Kraft voraus
- Vergissmeinnicht
- This Is Deutsch
- Ohne Dich
Mehr Fotos vom Abend findet ihr wie immer in unserer Galerie:
- Eisbrecher (19.03.2016, Hannover) [35]
- Unzucht (19.03.2016, Hannover) [31]
- One I Cinema (19.03.2016, Hannover) [30]
Links:
www.eis-brecher.com
www.unzucht-music.com
www.oneicinema.com
www.presse.ubooks.de/Fuhrmann/index.htm
Veranstalter:
www.protain.de